Der Streiktag der sozialistischen Gewerkschaften im öffentlichen Dienst ist Thema einiger Leitartikel der belgischen Tageszeitungen. Gazet van Antwerpen schreibt in Bezug auf den flämischen Gewerkschaftsbund ACOD: Der Streik ist ein Ausdruck der Verzweiflung einer Gewerkschaft, die nicht ertragen kann, dass die Mehrheit der Flamen für eine rechte Politik gestimmt haben. Eine Politik, die oft versagt, beispielsweise bei der Armutsbekämpfung, aber noch lange nicht so asozial ist, wie es die ACOD den Flamen weismachen will.
Viele Argumente der Gewerkschaften sind fragwürdig: So will die ACOD, dass "Postbote" als schwerer Beruf anerkannt wird, weil Postboten den ganzen Tag in Wind und Wetter Brief und Pakete in die Briefkästen stecken müssen und sich permanent inmitten des aggressiven Straßenverkehrs befinden. Die ACOD will, dass der Postbote deswegen früher in Rente gehen kann. Dabei vergisst sie, dass er sich dann nicht mehr an der Finanzierung der sozialen Sicherheit für die kommenden Generationen beteiligen würde. Und damit ist der Standpunkt der ACOD eigentlich viel asozialer als eine rechte Regierung, die will, dass die Menschen länger arbeiten, um die soziale Sicherheit bezahlbar zu halten.
Das lächerlichste Argument der ACOD ist die mögliche Privatisierung von Post und Bahn. Die ist überhaupt noch nicht beschlossen. Die ACOD streikt also gegen eine Maßnahme, die noch gar nicht getroffen wurde. Gazet van Antwerpen rät: Die ACOD sollte sich lieber ein Vorbild an den anderen Gewerkschaften nehmen, die zwar auch gegen die rechte Politik der Regierung protestieren, aber ohne dass sie dabei ihre Macht missbrauchen.
Eine Linke auf der Suche nach sich selbst
Die frankophone Tageszeitung Le Soir kommentiert: Das größte Problem des heutigen Streiks ist nicht, dass er stattfindet, sondern, dass niemand genau sagen kann, wer eigentlich streikt – eine Gewerkschaft, ein Teil einer Gewerkschaft, unterstützt von wem? Und mit welchen Forderungen? Sind es die fehlenden Investitionen im öffentlichen Dienst, das Pensionsalter, die Steuerungerechtigkeit oder ein bisschen von allem? Und was ist das Ziel? Es ist ein Streik, der niemanden groß stören wird. Sicherlich nicht die Regierung Michel, die zu Beginn der Legislatur schon heftigeren Gegenwind ertragen musste und seitdem einen abnehmenden Widerstand verspürt. Es bleibt der Eindruck einer Linken auf der Suche nach sich selbst, konstatiert Le Soir.
Gleiche Ziele, unterschiedliche Strategie
La Libre Belgique beschäftigt sich mit der Tatsache, dass dies ein Streik alleine der sozialistischen Gewerkschaften ist. Die FGTB, zu der die CGSP gehört, und die CSC teilen ihre Kritik an der Politik der Föderalregierung. Sowohl die Sozialisten als auch die Christlichen fordern das Gleiche. Lediglich die Strategie unterscheidet sie. Die eine spielt die Böse, während die andere sich konstruktiv gibt. Schon immer gab es bei der christlichen Gewerkschaft eine zurückhaltendere, besonnenere Auffassung von gewerkschaftlichem Protest. Im Gegensatz zu den brutalen Aktionen der FGTB bevorzugte die CSC die Debatte innerhalb der Konzertierungsorgane.
In der Tat sollte dort versucht werden, die Verhandlungen voran zu bringen, anstatt mit unangebrachten Blockaden, die auf die Regierung keinerlei Einfluss haben. Von einer Gewerkschaft darf man erwarten, dass sie konkrete Vorschläge macht, anstatt ihre Delegierten auf die Straße zu schicken, um sich dort mit hohlen Phrasen unglaubwürdig zu machen. Denn auch, wenn das Recht auf Streik respektiert werden muss: Für das Recht auf Arbeit muss das auch gelten, meint La Libre Belgique.
Ungedeckte Schecks trotz wirtschaftlichem Rückenwind
Het Nieuwsblad erinnert an die Regierungserklärung, die Charles Michel heute in der Kammer halten wird. Wir erwarten einen Premier voller Selbstvertrauen, der mit Wirtschaftsdaten unterstreichen wird, dass diese Regierung die beste seit 25 Jahren ist. Dabei kommt diese Regierung trotz wirtschaftlichem Rückenwind nicht über die Messlatte, die sie sich selbst gelegt hat. Der Tax-Shift ist redlich, aber wo bleibt der grundsätzliche Umbau unseres Steuersystems?
Dasselbe gilt für die Pensionen, die Energiepolitik, Mobilität und Armutsbekämpfung. Um sich selbst als Reformregierung bezeichnen zu dürfen, müsste diese Regierung, wie soll man es anders sagen, mehr reformiert haben. Bei den Gewerkschaften bleibt man dabei, so zu tun, als ob jede Veränderung der Anfang vom Ende sei. Im Bewahren des Status quo sind Regierung und die sozialistische Gewerkschaft de facto Verbündete, stellt Het Nieuwsblad fest.
Auch De Morgen verweist auf die Bilanz der Regierung Michel. Sie profitiert von einem wirtschaftlichen Klima, um die sie viele Vorgängerregierungen beneiden würden. Trotzdem bekommt sie ihre Konten nicht in Ordnung. Zu viel Zeit wurde vergeudet mit Streitereien, an deren Ende schlechte Kompromisse standen. Das verhinderte ernsthafte Debatten, beispielsweise über eine gerechtere Steuerpolitik. Diese Regierung schreibt ungedeckte Schecks aus. Kommt später die Rechnung, dürfte wohl wieder munter auf der sozialen Sicherheit herum gehackt werden. Für manche in der Regierung ist dieses Zukunftsbild wohl keine Befürchtung, sondern ein Wunsch.
Volker Krings - Bild: Laurie Dieffembacq/Belga