"Abgekämpft", titelt heute Het Nieuwsblad. La Libre Belgique meint auf Seite 1: "Eine zerrüttete CD&V verliert ihren Kopf".
Het Laatste Nieuws gibt den Buchstaben C, D und V auf seiner Titelseite eine neue Bedeutung: Christlich, demokratisch, völlig zerstritten.
De Morgen geht schon einen Schritt weiter und schreibt in Blockbuchstaben: "Die Falsche ist zurückgetreten". Die CD&V-Vorsitzende Marianne Thyssen hat gestern das Handtuch geworfen.
Sie übernahm die Verantwortung für die historische Wahlniederlage der flämischen Christdemokraten am 13. Juni. Erstmals blieb die CD&V bei einer Wahl unter der 20 Prozent-Marke.
Pflichtbewusst, loyal, selbstlos
Selbstlose Opferbereitschaft kennt Grenzen, notiert dazu das Börsenblatt De Tijd. Denn alle sind sich einig: Marianne Thyssen wollte den Job als Vorsitzende nicht, sie wollte auch nicht als Spitzenkandidatin ins Rennen gehen. Sie tat es trotzdem.
Thyssen ist der Inbegriff der Loyalität, meint Het Nieuwsblad in seinem Kommentar. Alles, was sie in den letzten zwei Jahren getan hat, tat sie für ihre Partei. Ihre Loyalität ging soweit, dass sie einen Wahlkampf quasi anstelle von Yves Leterme führte. Während Leterme sich nach Westflandern abgesetzt hatte, verteidigte Thyssen weiter dessen Arbeit als Premier. Zu einem politischen Vatermord war sie genetisch nicht imstande.
Auch Het Laatste Nieuws ist voll des Lobes für die Person Marianne Thyssen. Thyssen war eine untypische Erscheinung in der Brüsseler Politik. Sie arbeitete für andere, nicht für sich selbst. Einmal habe sie eine Anfrage für ein lockeres Personality-Interview ausgeschlagen. Sie wollte nicht, dass man über sie, ihre Person, ihren Charakter, ihre Vorlieben, ihre Lieblingsspeise, ihre Lebensweise berichtet. Ihre Antwort: Ich möchte, dass man über meine Arbeit spricht, meine Person und meine Ambitionen sind nicht wichtig.
Thyssen von Partei geopfert
Ausgerechnet diejenige, die weder Parteivorsitzende noch Premierministerin sein wollte, stand am Ende auch noch alleine da, analysiert auch Le Soir. Weil eine Wahlschlappe in den Sternen stand, haben sich alle anderen CD&V-Spitzenleute im Wahlkampf fast schon versteckt. Die CD&V hat Thyssen auf dem Altar von Eigeninteresen geopfert. Wie in alten Zeiten also: Schon die alte CVP hatte den politischen Vater - jetzt Muttermord - quasi institutionalisiert.
Thyssen stand vor einem unmöglichen Auftrag, der Wahlkampf war von vornherein verloren, ist die Brüsseler Zeitung De Standaard überzeugt. Leterme bombardierte Marianne Thyssen erst zur Parteivorsitzenden dann zur Spitzenkandidatin. Dabei hielt er sich selbst die Hintertür offen, um vielleicht doch wieder an die Spitze zurückzukehren.
Entweder, Leterme ist der größte Zyniker, der seit langem durch die Rue de la Loi gelaufen ist, oder er war intellektuell nicht dazu imstande, vorherzusehen, in welche Katastrophe er seine Partei damit steuerte. Für die CD&V geht es jetzt ums Überleben.
Leterme - der eigentliche Schuldige
Die CD&V war schon seit Monaten ein Schiff ohne Steuermann, glaubt auch Gazet van Antwerpen. Doch hat das niemand Marianne Thyssen persönlich angelastet. Vielmehr ist die Basis wütend auf Yves Leterme. Der hat Thyssen nicht nur gegen ihren Willen zur Spitzenkandidatin gemacht, er hat Thyssen auch noch sein Kreuz tragen lassen. Als ein Ehrenmann müsste Leterme sich jetzt auch zurückziehen. Wenn er am Ende noch Minister in einer Regierung Di Rupo - De Wever würde, dann wäre das der Gipfel der Unverschämtheit.
Leterme ist der eigentlich Verantwortlich für die existentielle Krise, in der sich seine Partei jetzt befindet, meint auch De Morgen. Marianne Thyssen hat pflichtbewusst und selbstlos ihre Aufgabe erfüllt, sie hat den Kelch bis zur Neige geleert. Wenn sie jetzt wieder dahin zurückehrt, wo sie sich am wohlsten fühlt, nämlich ins EU-Parlament, dann geht sie damit in die Geschichte ein als das x-te Opfer von Yves Leterme.
Thyssen-Rücktritt: Schlechtes Zeichen für De Wever - Di Rupo
Doch dürfte der Rücktritt von Marianne Thyssen für die föderale Politik nicht ohne Folgen bleiben. Vor allem die frankophonen Zeitungen befürchten eine Radikalisierung bei den flämischen Christdemokraten. Marianne Thyssen stand für eine moderate, pragmatische Linie schreibt unter anderem L'avenir. Jetzt, nach ihrem Rücktritt, werden die Flügelkämpfe bei den Christdemokraten wieder ausbrechen und die Verfechter einer harten flämischen Linie stehen schon in den Startlöchern.
La Libre Belgique nennt den Abgang von Marianne Thyssen sogar "beängstigend". Einige in der CD&V sehen eine Erklärung für die Wahlschlappe in der konsensorientierten Linie von Marianne Thyssen. Jetzt besteht die Gefahr, dass die CD&V im Grunde die Rolle einnehmen wird, die die N-VA in den letzten drei Jahren gespielt hat. Schließlich hat sich ja offensichtlich eine harte flämische Haltung ausgezahlt.
Ähnlich sieht das auch Het Belang van Limburg: Die internen Probleme bei der CD&V sind ein schlechtes Vorzeichen für das Tandem De Wever- Di Rupo. Für die CD&V ist die Versuchung groß, die Flucht nach vorn anzutreten und sich mit kompromisslosen flämischen Standpunkten zu profilieren. Also das zu tun, was De Wever und seine N-VA bis zum 13. Juni auch gemacht haben. Mit einer solchen Grundeinstellung ist allerdings keine Föderalregierung zu machen.
bild:belga