"Das gespaltene Frankreich", titelt L'Avenir. "Streit um ein zerrissenes Land", heißt es bei Het Nieuwsblad. "PS und Republikaner vor dem Zusammenbruch", schreibt La Libre Belgique auf Seite eins.
Das Ergebnis der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahl ist für die Zeitungen weiter ein großes Thema. Die meisten Kommentare widmen sich der Analyse dessen, was der Sieg des unabhängigen Kandidaten Emmanuel Macron und der rechtsradikalen Marine Le Pen bedeutet.
Le Soir führt dazu aus: Es ist ein wahres Erdbeben, das Frankreich erschüttert hat. Die beiden Parteien, die 50 Jahre das Rückgrat der Nation waren, stehen vor dem Zusammenbruch. Gewählt wurden andere Kandidaten. Das zeigt das große Unbehagen, das viele Bürger gegenüber den traditionellen Parteien empfinden. Die Parteien erscheinen ihnen zu schwerfällig, zu sehr als Mittel zum Zweck für einige Wenige, die sich der Partei bedienen, um Profit daraus zu ziehen.
Kaum Platz für neue, frische Ideen. Und genau das fasziniert an Macron. Er hat diese Ideen, verkörpert sie überzeugend und begeistert dadurch die Menschen. Aber ohne Apparat, sprich ohne Partei wird Macron scheitern. Es gilt also beides zu kombinieren. Ideen brauchen Strukturen, um praktisch umgesetzt zu werden. Und Parteien müssen Platz lassen für Ideen, um die Menschen wieder zu begeistern, glaubt Le Soir.
Le Pen – Aufstieg unaufhaltsam?
L'Avenir empört sich über den großen Zuspruch, den die Rechtsextreme Le Pen bekommen hat und schreibt: Vor 15 Jahren, als Vater Le Pen mit knapp 17 Prozent überraschend in die zweite Runde der Präsidentschaftswahl einzog, war Frankreich geschockt. Jetzt, wo Tochter Le Pen 21 Prozent erreicht und von 7,7 Millionen Franzosen gewählt worden ist – übrigens ein Rekordergebnis für den Front National – ist das für alle fast schon normal. Das ist erschreckend.
Damit hat Le Pen es geschafft, der Front National ist gleichsam zu einer normalen Partei geworden, mit einer soliden Wählerschaft um die 20 Prozent. Hochrechnungen gehen davon aus, dass Le Pen in der Stichwahl bis zu 40 Prozent bekommen könnte. Das ist der eigentliche Sieg von Le Pen. Heutzutage schämt man sich nicht mehr, Front National zu wählen, man ist sogar stolz darauf, entsetzt sich L'Avenir.
Ähnlich sieht das die Wirtschaftszeitung L'Écho und meint: Emmanuel Macron hat also eine große Verantwortung. Wenn er Präsident sein wird, muss er sich um die Menschen kümmern, die für Le Pen gestimmt haben. Es sind die, die von der herkömmlichen Politik enttäuscht sind und sich als Verlierer der Globalisierung sehen. Tut Macron das nicht, dann muss man mit großen Sorgen auf die Präsidentschaftswahl 2022 schauen. Denn dann könnte der Aufstieg des Front National noch weitergehen, befürchtet L'Écho.
Mélenchon – ein schlechter Verlierer oder der bessere Demokrat?
La Dernière Heure ärgert sich, wie andere Zeitungen auch, über Jean-Luc Mélenchon. Der linke Kandidat, der gut 19 Prozent der Stimmen bekommen hatte, hat keine Wahlempfehlung für die Stichwahl ausgesprochen. La Dernière Heure führt aus: Vor 15 Jahren, als Mélenchon noch Sozialist war, hatte er ganz anders gehandelt. Damals hatte er vehement jeden Franzosen dazu aufgerufen, in der Stichwahl zwischen Le Pen und Chirac den rechtsradikalen Le Pen so stark wie möglich zu erniedrigen. Gestern hat Mélenchon auf so ein Aufruf verzichtet, wohl enttäuscht darüber, dass er es nicht in die Stichwahl geschafft hat. Ein schlechter Verlierer, findet La Dernière Heure.
Anders sieht das das GrenzEcho und meint: Das Schweigen von Jean-Luc Mélenchon ist wenigstens konsequent. Der Aufruf der Verlierer an ihre Wähler jetzt Macron zu wählen, zeigt nämlich die Schwäche des französischen Präsidentschaftswahlsystems. Da wird ein Großteil der Bevölkerung dazu aufgerufen, für jemanden zu stimmen, der ihnen in der ersten Runde keine Stimme wert war. Und das nennt man dann im Nachhinein Demokratie, kritisiert das GrenzEcho.
Macron – Chouchou des Establishments
Het Laatste Nieuws schreibt: Macron ist zwar als unabhängiger Kandidat angetreten, als jemand, der anders sein wollte als das bisherige System, doch das Establishment hat ihn jetzt eingeholt. Der Aufruf der etablierten Parteien, in der Stichwahl für ihn zu stimmen, macht das deutlich. Mit Macron können irgendwie alle leben. Er ist eine Mischung aus François Hollande mit Facelifting und Sarkozy am Kärcher. Jung, dynamisch, sympathisch. Aber kein Revolutionär. Vielleicht ist das auch gut so, überlegt Het Laatste Nieuws.
Ähnlich analysiert De Standaard, zieht aber einen anderen Schluss und schreibt: Die Unterstützung der herkömmlichen Parteien für Macron ist jetzt das beste Argument für Le Pen, sie zu wählen. Denn sie bleibt jetzt die einzige Kandidatin, die wirklich etwas Neues will. Macron steht jetzt deutlich für all das, was die Unzufriedenen nicht wollen und wodurch sie sich verraten fühlen: das herkömmliche System, die EU und die Finanzmärkte. Alle haben gestern gejubelt über Macrons Sieg, das könnte eine Dynamik entwickeln, die Le Pen vielleicht hat noch mehr Stimmen bringen wird als die 40 Prozent, die man ihr jetzt schon voraussagt, befürchtet De Standaard.
Kay Wagner - Foto: Geoffroy Van der Hasselt/AFP