"Das Pokerspiel von Theresa May", titeln La Libre Belgique und L'Echo. Die britische Premierministerin hat gestern unerwartet Neuwahlen angesetzt, Termin wäre demnach der 8. Juni. "May überrascht damit sogar ihre eigene Regierung", weiß De Standaard. Anscheinend war nur die Queen über das Vorhaben informiert.
Bislang hatte Theresa May Neuwahlen kategorisch ausgeschlossen. Deswegen spricht De Standaard denn auch von einer "180-Grad-Wende". Der Coup steht im Zusammenhang mit dem Brexit, wobei Het Laatste Nieuws betont: "Die Briten müssen zwar verfrüht an die Urnen, aber der Brexit bleibt".
Das Kalkül ist wohl ein anderes: "Theresa May will sich ihre Vision für den Brexit vom Wähler bestätigen lassen", schreibt Le Soir auf Seite eins. "May will breite Rückendeckung", so formuliert es das GrenzEcho. De Morgen sieht mögliche positive Konsequenzen für Belgien: "May pokert und Belgien kann davon profitieren", notiert das Blatt. Die Argumentation: Wenn Theresa May wirklich gute Handelsabkommen will, dann kann das in der EU und insbesondere in Belgien Vertrauen schaffen.
Stimmvieh kann sich am Ende auch rächen
Klare Verhältnisse auf der Insel sind mit Sicherheit wünschenswert, analysiert L'Echo in seinem Leitartikel. Glaubt man den Umfragen, dann könnte Theresa May bei den anstehenden Neuwahlen ein klares Mandat bekommen. Eine vom Wähler mit breiter Mehrheit legitimierte politische Führung in London, das wäre auch im Interesse der Europäischen Union. Bei all dem darf man aber nicht vergessen: Der Urnengang ist auch mit enormen Risiken verbunden, kann etwa die Unabhängigkeitsbestrebungen Schottlands noch befeuern.
La Libre Belgique sieht das ähnlich: Theresa May weiß, dass stürmische Zeiten bevorstehen. Sie will den 27 verbleibenden EU-Staaten aus einer Position der Stärke heraus entgegentreten. Und dafür die abweichlerischen Stimmen zum Schweigen bringen. Das Einzige, was ihr den Sieg verhageln kann, sind die Unabhängigkeitsträume der Schotten.
De Morgen sieht seinerseits die Gefahr, dass der Brexit am Ende nur noch härter ausfallen wird. Man darf davon ausgehen, dass sich die Wahlkämpfer in Großbritannien mit immer wieder neuen Versprechen in Bezug auf den Brexit noch einmal gegenseitig überbieten werden. Am Ende wird die britische Kompromisslosigkeit nur noch ausgeprägter sein. Daran sieht man, wie gefährlich es ist, wenn man auf einen kurzfristigen politischen Sieg spekuliert, dabei aber die mittel- bis langfristigen Folgen für die Gesellschaft vergisst.
Le Soir schlägt in dieselbe Kerbe: Wann hören Politiker endlich auf, Wahlen wie ein Spielzeug zu betrachten? Umfragen hin oder her, aber wer kann heutzutage noch wissen, welche Überraschungen eine Wahl am Ende bereithält? In der Zwischenzeit wird der britische Wahlkampf die derzeitige relative Ruhe wieder in ein lautes Gepolter verwandeln, mit wohl nur einer Stoßrichtung, nämlich, wie schön es doch ist, alleine für sich, ohne Brüssel, im Rahmen eines triumphierenden Nationalismus leben zu dürfen. Aber Vorsicht: Stimmvieh kann sich am Ende auch rächen.
Charles Michel, der Laufbursche
Apropos "Stimmvieh": Eben dieses Wort hatte die neue N-VA-Staatssekretärin Zuhal Demir in den Mund genommen, um den Koalitionspartner CD&V nieder zu machen. Unter anderem hatte sie die Christdemokraten auch als "Moslem-Partei" bezeichnet. CD&V-Chef Wouter Beke hatte dafür eine öffentliche Entschuldigung verlangt, die er bislang aber nicht bekommen hat.
Deswegen verweigert die CD&V der Staatssekretärin weiterhin das Vertrauen. "Noch keinen Frieden mit der CD&V", schreibt denn auch Het Belang van Limburg auf Seite eins. "Noch kein Vertrauen, aber Demir findet das nicht so schlimm", bemerkt seinerseits Het Nieuwsblad. Fakt ist jedenfalls: Die Abstimmung über das politische Programm der neuen Staatssekretärin wurde erst einmal verschoben. Dies anscheinend auch auf Betreiben von Premierminister Charles Michel höchstpersönlich.
Da ist er ja wieder!, freut sich fast schon Gazet van Antwerpen. Endlich!, endlich, findet der Premierminister noch einmal die Zeit, einzugreifen. Das hätte er viel früher tun müssen. Jetzt ist die Situation schon so verfahren, dass man fast keinen Ausweg mehr sehen kann. Wenn man das in Relation setzt mit dem, was sonst in der Welt passiert - Türkei, Syrien, Brexit - , dann kann man eigentlich nur noch den Kopf schütteln.
Die Aufgabe von Charles Michel besteht anscheinend nur noch darin, zwischen den Koalitionspartnern zu schlichten, meint auch L'Avenir. Auf die Gefahr hin, dass die angekündigten Reformen liegenbleiben, dass sein Kabinett de facto eigentlich nur noch eine geschäftsführende Regierung ist. Der Premier muss seine Mannschaft schnellstens wieder in den Griff bekommen.
Das ist keine Regierung mehr, sondern ein Kurierdienst, der Charles Michel als Laufburschen missbraucht, so die beißende Analyse von Het Laatste Nieuws. Charles Michel darf nur noch zwischen CD&V und N-VA hin- und hertingeln, um Botschaften zu überbringen. Dass die CD&V hier auf Teufel komm raus eine Entschuldigung verlangt, ist übrigens fast schon kindisch. Hätte man die auch verlangt, wenn Zuhal Demir die CD&V als "Buddhisten-Partei" bezeichnet hätte, die Landwirte als "Stimmvieh" benutzt? Dass Beke das Prädikat "Moslem-Partei" als Beleidigung empfindet, dafür müsste er sich eigentlich entschuldigen.
Groen und Michel punkten in Flandern
De Standaard bringt heute erste Ergebnisse aus seinem neuen Politbarometer. Wichtigste Erkenntnis: Groen liegt inzwischen hinter der N-VA und der CD&V auf Platz drei in der flämischen Wählergunst. Die anderen sollten sich ein Beispiel an den Grünen nehmen, meint das Blatt sinngemäß in seinem Kommentar. Bezeichnenderweise ist Groen nämlich die einzige Partei, die sich aus dem derzeitigen Dauerknatsch heraushält.
Das zeigt sich auch in der Popularitätshitparade, meint Het Nieuwsblad. Bemerkenswert ist nämlich, dass ausgerechnet Charles Michel der beliebteste Politiker in Flandern ist. Und das zeigt eben: Wer keinen Streit anzettelt, der kann punkten.
Roger Pint - Foto: Daniel Leal-Olivas