"Belgien kämpft für ein Europa der zwei Geschwindigkeiten", titelt Le Soir. Eigentlich feiert die EU am Samstag einen runden Geburtstag. Vor 60 Jahren wurde mit den Römischen Verträgen der Gründungsakt der Staatengemeinschaft unterzeichnet. Sechs Länder, nämlich Deutschland, Frankreich, Italien und die drei Beneluxstaaten vereinbarten am 25. März 1957 insbesondere eine verstärkte wirtschaftliche Zusammenarbeit.
Allerdings, und da sind sich alle einig, wirklich zum Feiern ist heute niemandem zu Mute. Die EU steckt in der tiefsten Krise ihrer Geschichte. In Rom wird am Samstag also nicht nur an die Unterzeichnung der Gründungsverträge erinnert, man blickt auch nach vorn: "Die EU will sich in Rom neuen Atem einhauchen", so formuliert es L'Echo. "Die EU ist in Rom auf der Suche nach sich selbst", schreibt Le Soir.
Am Samstag wollen die Staats- und Regierungschefs der 27 Staaten der Europäischen Union - also ohne die Briten - die sogenannte "Erklärung von Rom" verabschieden, die die Eckpunkte der EU der Zukunft enthalten soll. Kernpunkt ist da ein "Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten". Die Idee wird von Deutschland und Frankreich, aber ganz besonders auch von Belgien unterstützt. Es war sogar Premier Charles Michel, der als erster das Konzept in den Raum stellte.
Einsicht ist der erste Schritt auf dem Weg zur Besserung
Die Geburtstagstorte wird vielen in Rom heute wohl nicht wirklich schmecken, meint Le Soir in seinem Leitartikel. Die "Erklärung von Rom" ist bis auf Weiteres erst mal nur ein frommer Wunsch. Die einzig wirklich konkrete Botschaft ist die, dass es nicht so weitergehen kann wie bisher. Um das jetzt mal auszuführen: Die EU kriegt die Einheit in der Verschiedenheit nicht hin. Entscheiden bedeutet immer auch polarisieren. Die Frage aller Fragen lautet jetzt also: Will man auch in einer EU bleiben, wenn man sich einer Mehrheit der Staaten beugen muss?
Wo liegt der Mehrwert der EU? Darüber müssen sich alle klar werden, meint auch De Standaard. Die Europäische Union läuft Gefahr, die Herzen und Köpfe der Bürger definitiv zu verlieren. Notgedrungen sucht man nach dem Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten, wohlwissend, dass das nicht ungefährlich ist. Variable Geometrie kann zur Spaltung und schlimmstenfalls zu einer Erosion führen.
Für L'Avenir hat Europa auch Staatsmänner nötig, Politiker, die das große Ganze vor Augen haben, nicht nur die eigenen, nationalen Interessen. Die Unterzeichnung der Römischen Verträge vor 60 Jahren war ein ebenso visionärer wie mutiger Akt. Von der heutigen Politikergeneration würde man sich eine ähnliche Kragenweite wünschen.
Vielleicht ist es ja schon zu spät, warnt Het Belang van Limburg. Nach dem Brexit könnte ein möglicher Wahlsieg einer Marine Le Pen in Frankreich der EU definitiv den Garaus machen. Den Trumps, Putins und auch den Chinesen gegenüber würden wir da keinen überzeugenden Eindruck machen. Allerdings: Nicht nur Leute wie Le Pen oder auch Wilders haben ein Problem mit Europa, auch überzeugte Europäer wissen, dass es so nicht weitergehen kann. Und wie heißt es so schön: Einsicht ist der erste Schritt auf dem Weg zur Besserung.
Klatsche für die Sozialisten
Innenpolitisch sorgt eine Umfrage für Aufhorchen, genauer gesagt ist es das Politbarometer von RTBF und La Libre Belgique. Die wichtigste Erkenntnis für La Libre: "Die PTB überholt die PS in der Wallonie", so die Schlagzeile auf Seite eins. Der Umfrage zufolge landen die Sozialisten auf Platz drei; neuer Spitzenreiter ist die liberale MR. Die kommunistische PTB kommt auf fast unglaubliche 20,5 Prozent. La Dernière Heure bringt auf Seite eins den Beginn einer Erklärung für das Abschmieren der Sozialisten: "Die PS bezahlt cash für die Publifin-Affäre".
Die Strafe ist grausam aber irgendwie logisch, analysiert La Libre Belgique in ihrem Leitartikel. Die Publifin-Affäre betrifft zwar im wesentlich alle drei traditionellen Parteien, in der öffentlichen Wahrnehmung mag es aber so aussehen, als hätten sich hier vor allem die Sozialisten bedient. Beängstigend ist hier aber die Feststellung, dass vor allem die PTB davon zu profitieren scheint, die man in der ganzen Geschichte eigentlich kaum gehört hat, im Gegensatz etwa zu den ebenfalls oppositionellen Grünen. Das weist auf eine große Anzahl von Proteststimmen hin. Bei all dem muss man aber betonen: Es ist immer nur eine Umfrage.
Eine solche Gemengelage, wie sie die Umfrage skizziert, würde die Situation aber nicht einfacher machen, glaubt Het Laatste Nieuws. Eine Folge wäre nämlich, dass MR und PS quasi wieder aufeinander angewiesen wären, um eine Mehrheit zustande zu bringen. Die PS könnte sich damit durch die Hintertür auch wieder in die Föderalregierung einschleichen. Für die N-VA, die in letzter Zeit diverse Male unter Beschuss stand, ist das eine gute Neuigkeit: Bart De Wever wird bald wieder nach Herzenslust gegen die Sozialisten stänkern können, was ihm ja schon zwei Mal einen Wahlsieg beschert hat.
Invaliditäts-Simulanten und Folterfleischskandal
Spektakuläre Schlagzeile auf Seite eins von Het Nieuwsblad: "Einer von vier Invaliden ist schon beim Schwarzarbeiten erwischt worden", schreibt das Blatt. Bei rund 1.000 Kontrollen sind über 300 Gesetzesverstöße festgestellt worden.
Dazu passt die Titelstory von Het Belang van Limburg: "Undercover-Ermittler entdecken den größten Sozialbetrug aller Zeiten", so die Schlagzeile. Bis zu 2.000 Menschen, die arbeitsunfähig geschrieben waren, haben sich diesen "Invaliden-Status" erschlichen. Im Mittelpunkt des Skandals steht ein Neurochirurg des bekannten "Virga Jesse"-Krankenhauses in Hasselt. Der soll den Simulanten die falschen Bescheinigungen ausgestellt haben. Der Mann sitzt in U-Haft.
In Flandern sorgt nach wie vor der, man könnte sagen, "Folterfleischskandal" für Diskussionsstoff. Tierschützer hatten aufgedeckt, dass im größten flämischen Schlachthof in Tielt, zwischen Brügge und Gent, Tiere systematisch brutal misshandelt werden. Die schockierenden Bilder sorgten in den vergangenen Tagen für einen Sturm der Entrüstung.
Eben diese Empörung ist scheinheilig, meint Het Nieuwsblad in seinem Leitartikel. Skandale in der Textilbranche haben es auch schon gezeigt: Auch die Tragödie in einer Fabrik in Bangladesch mit mehr als tausend Toten hat die Kunden nicht wirklich sensibilisiert. Nach wie vor wundert sich kaum jemand darüber, wenn neue T-Shirts gerade einmal fünf Euro kosten.
Wir brauchen eine Abkehr vom Massenkonsum, fordert derweil De Morgen. Will man Missstände wie in Tielt vermeiden, dann geht das nur über einen radikalen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kurswechsel. Die Frage ist: Wollen wir das wirklich? Die nächste Welle der Empörung über gequälte Schweine oder Kindersklaven kommt bestimmt.
Roger Pint - Illustrationsbild: Emmanuel Dunand/AFP