"Freispruch", titeln Le Soir, L'Avenir, Het Nieuwsblad und das Grenz-Echo auf Seite eins. "Bernard Wesphael für nicht schuldig befunden", bringt La Libre Belgique die Entscheidung des Schwurgerichts auf den Punkt. "Kein Mörder, aber Witwer", so die Schlagzeile auf der Titelseite von De Standaard.
Nach rund drei Prozesswochen haben die Geschworenen in Mons gestern Nachmittag ein Urteil gefällt, das man so zusammenfassen könnte: im Zweifel für den Angeklagten. Trotz zahlreicher Indizien gibt es keinen endgültigen Beweis dafür, dass der ehemalige wallonische Abgeordnete Bernard Wesphael seine Frau Véronique Pirotton vor drei Jahren in einem Hotelzimmer in Ostende getötet hat. Die Familie der Toten zeigte sich schwer erschüttert. Sie hatte fest mit einer lebenslänglichen Haftstrafe gerechnet.
Beweisführung wie ein Schweizer Käse
Dazu bemerkt La Dernière Heure: Wesphael verdankt seinen Freispruch vor allem einer Person – seinem Anwalt Jean-Philippe Mayence. Er war es, der die schwerwiegende Anklage der Staatsanwaltschaft Punkt für Punkt entkräftet, geradezu in der Luft zerrissen hat. Het Nieuwsblad übt in diesem Zusammenhang scharfe Kritik an den Ermittlern in Brügge. Der Prozessausgang kommt einer schallenden Ohrfeige für die Staatsanwaltschaft gleich.
Wer einen für viele Jahre hinter Gitter bringen will, muss darauf achten, dass die Anklage nicht so viele Löcher hat wie ein Schweizer Käse, so die Zeitung. Spuren, denen nicht gründlich nachgegangen wurde, Hypothesen, die unzureichend mit den tatsächlichen Gegebenheiten abgeglichen wurden und wenig überzeugende Sachverständigengutachten: In der Urteilsbegründung hat das Gericht die zahlreichen Mängel und Fehler der Ermittler aufgelistet.
Selbstmord, Totschlag oder ein Unfall? Was wirklich am 31. Oktober 2013 im Zimmer 602 des Hotels Mondo in Ostende geschah, das weiß nur Bernard Wesphael, hält La Libre Belgique fest. Richter und Geschworene haben entschieden: Wesphael ist nicht schuldig. Das ist die juristische Wahrheit – und die müssen wir akzeptieren. Le Soir gibt zu bedenken: Im Zweifel für den Angeklagten – dieser Freispruch ist für alle Beteiligten unbefriedigend. Sowohl für den jetzt Freigesprochenen, als auch für die Angehörigen der Toten.
Alle Zutaten für den perfekten Krimi waren da
Neben der Kritik an der ermittelnden Staatsanwaltschaft stellt L'Avenir den Umgang der Medien mit dem Fall Wesphael in Frage. Manche Blätter hatten dem Angeklagten schon vor dem eigentlichen Prozess den Prozess gemacht. Darüber hinaus muss sich die Presse die Frage gefallen lassen, ob es wirklich notwendig war, den Fall so in der Öffentlichkeit breitzutreten. Für L'Avenir ist klar: Alle Zutaten für den perfekten Krimi waren da – ein Politiker, eine hübsche Frau, Sex, Alkohol und Medikamente, ein manipulativer Liebhaber, schlüpfrige Briefe und eine Leiche in einem Hotelzimmer.
De Standaard bemerkt: Der Wesphael-Prozess war das letzte große Schwurgerichtsverfahren in Belgien. In Zukunft werden solche Fälle vor Strafgerichten verhandelt – also ohne Jury aus zwölf gewöhnlichen, vom Zufall bestimmten Bürgern. Die Regierung hält solche Prozesse für zu langwierig und kostspielig. Die Zeitung gibt aber zu bedenken: Gerade die Akte Wesphael hat gezeigt, wie wichtig solche öffentlichkeitswirksamen Prozesse sind.
Das ganze Land hat mitverfolgen können, wie lückenhaft die Beweisführung der Staatsanwaltschaft war, wie viele Zweifel blieben. Der Freispruch ist daher für die Bürger nachvollziehbar. Mehr noch: Schwurgerichte können eine Lehrstunde der Demokratie sein. Genauso sieht es La Libre Belgique. Gerade in Zeiten von Populismus und Radikalisierung wäre es wichtig, eine Bürger-Justiz zu bewahren.
Trotzdem noch Glück gehabt
Het Laatste Nieuws ist überzeugt: Ein gewöhnliches Strafgericht hätte Wesphael zu 30 Jahren Haft verurteilt. Solche Verfahren ohne Volksjury sollen künftig die Regel sein. Zwar werden die Prozesse dann kürzer und günstiger, allerdings werden kaum noch Zeugen vor Gericht vorgeladen werden. Die Richter urteilen fast ausschließlich auf der Grundlage von Unterlagen wie Ermittlungsberichten, Verhörprotokollen oder Gutachten. Doch gerade der Prozess Wesphael hat gezeigt, dass solche Unterlagen nicht immer deutlich und präzise sind.
De Morgen hingegen freut sich über die Abschaffung der Schwurgerichte. Mit dem Wesphael-Prozess haben wir wieder ein Schwurgerichtsverfahren in seiner abstoßendsten Form erlebt. Die Gerichtsmedizin konnte noch nicht einmal eindeutig die Todesursache Pirottons feststellen. Zwölf Menschen mussten aufgrund ihres Bauchgefühls ein Urteil fällen.
Wesphael hat zehn Monate ohne schlüssige Beweise in Untersuchungshaft verbracht. Und er hat bei all dem trotzdem noch Glück gehabt: Unter den Geschworenen hätten zufällig ja auch Menschen sitzen können, die einen persönlichen Groll gegen Politiker hegen. Deswegen hofft die Zeitung, dass es das letzte Mal war, "dass Hirnchirurgen auf halbem Weg ihr Skalpell der Putzfrau in die Hände drücken".
akn - Bild: Thierry Roge (belga)