Die dadurch ausgelöste Bestürzung ist verständlich, denn die Partei steht für eine fast uneingeschränkte Selbstbestimmung der Regionen als Vorstufe zur flämischen Unabhängigkeit.Und was wäre, wenn die N-VA wirklich gewinnt?
Natürlich haben die Meinungsforscher mit ihren Umfragen in der Vergangenheit schon mehr als einmal schwer danebengelegen, doch hat die N-VA, die Nieuwe Vlaamse Alliantie, nicht erst seit gestern die Nase vorn. Ihr Sieg ist also keineswegs ausgeschlossen. Und dann?
Dann wird sie bei der Bildung der neuen Regierung in einer ersten Phase wohl unumgänglich sein. Dabei werden sich schnell zwei Möglichkeiten herausschälen.
Nennenswerte Konzessionen sind von der N-VA kaum zu erwarten
Die eine ist, dass die N-VA konzessionslos auf ihren radikalen Positionen beharrt. Dann manövriert sie sich selbst schnurstracks auf die Oppositionsbank, denn selbst den übrigen Parteien Flanderns, mit Ausnahme des Vlaams Belang natürlich, geht der N-VA Autonomiekurs zu weit.
Die Alternative dazu ist eine konzessionsbereite N-VA, wobei die große Frage sein wird, wie viel wird sie sich an Zugeständnissen abringen lassen. Realistisch betrachtet, dürfte das nicht viel sein, jedenfalls nicht genug, um mit den frankophonen Koalitionspartnern auch nur den kleinstmöglichen gemeinsamen Nenner zu finden.
Auch in diesem Fall könnte sich also der voraussichtlich große flämische Wahlsieger relativ schnell vom Verhandlungstisch verabschieden. Sollte dieses durchaus denkbare Szenario eintreffen, stände die N-VA sehr schnell alleine da, ohne Aussicht, etwas von ihrem radikalen gemeinschaftspolitischen Programm umsetzen zu können.
Eine tiefgreifende Staatsreform wird unumgänglich sein
Das heißt jedoch keineswegs, dass es keine grundlegende Staatsreform nach den Wahlen geben wird. Vergessen wir eines nicht: Die Übertragung von bedeutenden zusätzlichen Kompetenzen an die Regionen und Gemeinschaften steht auch im Forderungskatalog der übrigen flämischen Parteien, wenn auch in weniger radikaler Form als bei der N-VA.
Es wird also auf jeden Fall zu einer großen Verhandlungsgrunde über ein neues Belgien kommen, in dem die Teilstaaten neue und wesentliche Kompetenzen erhalten werden.
Finanzausgleich und Solidarität sind unverzichtbar
Bei diesen Gesprächen ist es eminent wichtig, dass die frankophonen Parteien in zwei Punkten hart bleiben: Es muss einen Finanzausgleich zwischen ärmeren und reicheren Regionen geben, und die interpersonelle Solidarität, das heißt die finanzielle Solidarität zwischen den Personen im Bereich der sozialen Sicherheit, also bei Pensionen, Arbeitslosenunterstützung, Kinderzulagen und Krankengeld, muss erhalten bleiben.
Andernfalls nämlich erleben wir eine verkappte Teilung des Landes, wobei Belgien nichts weiter wäre als der Name einer leeren Hülse. Dann wäre der Zustand erreicht, den sich die N-VA als Übergangsphase zur endgütigen Spaltung des Landes zum Ziel gesetzt hat. Die Chancen, dass es so weit nicht kommen wird, stehen nicht schlecht, denn die meisten flämischen Parteien treten zwar für eine weitgehende Staatsreform ein, plädieren jedoch weiterhin für die finanzielle Solidarität in der sozialen Sicherheit als wichtiges belgisches Bindeglied.
Man sollte sich jedoch keine Illusionen machen, denn es wird alles andere als einfach sein, zwischen Frankophonen und Flamen eine tragfähige Grundlage für eine so weit gehende institutionelle Reform zu finden.
BHV und Sparkurs als weitere Prioritäten
Abschließend dürfen wir eines nicht vergessen: So wichtig die Staatsreform auch sein mag, es gilt auch noch das Problem BHV zu lösen, das die belgische Innenpolitik seit Monaten lahmlegt. Zwar sind alle von der zwingenden Notwendigkeit einer Lösung überzeugt, doch das Rezept zu finden, ist eine andere Sache.
Und dann wäre da noch ein anderer unumgänglicher Schwerpunkt, nämlich die Sanierung der Staatsfinanzen. Wenn Belgien den von Europa geforderten Normen entsprechen will, werden wir bis 2015 an einer Rosskur von Einsparungen in Höhe von fünf Milliarden Euro jährlich nicht vorbeikommen. Und das bedeutet, auch wenn das keine Partei im Wahlkampf so deutlich sagt, nichts anderes als Heulen und Zähneknirschen.
brf