"C'était le bordel" - "Es war ein heilloses Chaos". Diesen - im Übrigen in seiner Wortwahl nicht gerade vorzeigbaren Satz - den hat in dieser Woche kein Geringerer in den Mund genommen als der Chef der Eisenbahnpolizei. Der Satz fiel im ehrwürdigen Untersuchungsausschuss der Kammer, der die Anschläge vom 22. März aufarbeiten soll.
"C'était le bordel", so fasste der Polizeiverantwortliche die Lage auf der Kommando-Ebene zusammen, dort also, wo die Fäden eigentlich zusammenlaufen, dort, wo die Hilfe koordiniert und organisiert werden sollte.
"C'était le bordel". Wenn auch nicht in diesen Worten dürfte das wohl auch eine der Schlussfolgerungen von besagtem Ausschuss sein. Ein Beispiel: Nach wie vor ist nicht klar, wer im Notfall die Entscheidung trifft, die Metro zu schließen. Das ist umso surrealistischer, um nicht zu sagen: skandalöser, als nicht nur Unglückspropheten schon seit Jahren -nein, Jahrzehnten- mit einem Anschlag in Brüssel rechnen. Als sich Premierminister Michel am Abend des 22. März an die Bevölkerung wandte, waren nicht umsonst seine ersten Worte: "Was wir befürchtet haben, ist eingetreten".
Statt eines eingespielten, eintrainierten Krisenplans gab es dort eben in erster Linie Chaos. Und das ist unentschuldbar. Das eigentlich Beunruhigende ist aber, dass das nur ein Symptom einer Krankheit ist, die längst den ganzen Körper erfasst hat. Zumal in den letzten Wochen hat sich gezeigt, dass das Brüsseler "bordel" in gewisser Weise stellvertretend steht für den Zustand des Landes. Verantwortungsbewusstsein, Bürgersinn: Fehlanzeige!
Beispiel Gefängniswärter: Wie kann man denn so blind sein, dass man es in Kauf nimmt, dass die Menschen hinter den Gefängnismauern buchstäblich im eigenen Dreck ersticken?
Beispiel Flughafen, wo es etwa der Flughafenpolizei, den Fluglotsen oder zuletzt auch den Mitarbeitern der Gepäckabfertigung offensichtlich "piep egal" war, dass sie mit ihren jeweiligen Streiks dem ohnehin schon am Boden liegenden Airport nochmal einen Tritt in die Weichteile verpassten.
Oder das Sicherheitspersonal im Justizpalast, das Belgien vor der Weltpresse blamierte, weil die Mitarbeiter um 16:00 Uhr ihre Sachen packen wollten, was zu einem Abbruch des großen Terrorismus-Prozesses führte.
So verschieden diese Geschichten auch sind, es gibt hier einen Roten Faden; in einem Satz: "Nach mir die Sintflut". Ob die Sorgen und Nöte der jeweiligen Mitarbeiter nun richtig und nachvollziehbar sind, oder nicht. Es kann nicht sein, dass man aus diesem Grund gleich das Kind mit dem Bade ausschüttet, etwa die Menschenrechte aushebelt, wie in den Gefängnissen, oder seine eigene Institution beschädigt, diskreditiert, gar ins Mark trifft, wie etwa am Flughafen oder im Justizpalast.
Das Bild, das hier entsteht, das ist das eines Landes, das nicht mehr dreht, das Bild eines gescheiterten Staates, eines "failed state". Ja, "failed state"! Man sollte sich hierzulande vielleicht doch mal die Frage stellen, ob die ausländische Kritik an Belgien nicht am Ende ein klitzekleines bisschen gerechtfertigt war und ist. Denn, ja, man muss sagen, wie es ist! Belgien ist in gewisser Weise ein gescheiterter Staat.
Erstens: Ein gescheiterter Staat, weil er eigentlich gar nicht mehr existiert. Stattdessen gibt es viele Staaten im Staate Belgien. Mit dem Resultat, dass es viele Verantwortliche gibt, von denen aber im Ernstfall niemand wirklich verantwortlich ist.
Gescheitert ist Belgien als Staat aber auch noch aus einem zweiten Grund, nämlich weil sich niemand mehr mit ihm identifiziert, bzw. mit dem Gemeinwesen. Jeder ist sich selbst der Nächste. Aus einem alten historischen Reflex heraus wähnen sich viele Bürger anscheinend wieder in so einer Art "Fremdverwaltung", bei der die Politik die Rolle spielt, die früher nacheinander die Spanier, Österreicher, Niederländer, Franzosen oder Deutschen innehatten. Die Folge ist allgemeine Teilnahmslosigkeit und eine Form von "bürgerlicher Anarchie".
Doch auch die Politik denkt oft nur ganz zuletzt an die Interessen des Staates. Viel wichtiger ist es anscheinend, dem jeweils anderen den Schwarzen Peter zuzuschustern. Niemand ist zuständig, niemand fühlt sich betroffen, kollektiver Egoismus auf allen Ebenen: Die Politik "brutschelt" in ihrem eigenen Saft, viele Bürger sehen nur noch ihre eigenen Interessen.
Es ist höchste Zeit, dass die Politik, die Bürger, dass wir alle zur Besinnung kommen, und uns dabei vor allem eins vor Augen halten: Dieser Staat, das sind wir alle. C'est ça, ou le bordel...
Roger Pint - Bild: Achim Nelles/BRF
Ausnahmsweise mal mit Ihnen einverstanden Herr. P. Ein Staat, in dem man aus finanziellem Manko keine Terroristen, die sich tatsächlich in die Luft sprengen, überwachen kann, aber seinen Bürgern mit Gerichtsvollzieher-Schlosser-Polizist (Letzterer hat bestimmt Besseres und auch Sinnvolleres zu tun) für eine nicht-bezahlte EUR 20 Mahnungsgebühr auf eine zu-spät-gezahlte Müllsteuer droht, kann in der Tat nur als "failed state" gelten - "rogue state" passt mE sogar besser. Und dieses einfache, persönliche Beispiel, ist wohl nur die Spitze eines Eisberges, der unter Wasser bestimmt höher ist als der Everest. A propos: Selbst in Nepal, dem viertärmsten Land der Erde lacht man über Belgien. Wie meinen die Flamen schon mal? "België Barst"!
Ich bin Belgier bin es gerne und fuehle mich wohl.
Aber leider muss ich dem Bericht 100% recht geben.
Ich wuerde sogar behaupten der Bericht meint es noch wohlwollend.
Gefuehlt ist Belgien gemaessen an den sogenannten westeuropaeischen Mass-
staeben eines der verottesten korruptesten Laender ueberhaupt:
Dies alles wurde aber schon detailliert in dem Bericht erlaeutert.
Nur noch ein, und ich gehoere keiner Partei weder einer idelogischen Gesinnung an, gibt eine korruptere und versumpftere Partei als die PS??
Was in der Wallonie ablaeuft ist doch an Verflechtungen nicht mehr zu ertragen
Ein sehr mutiger Kommentar, der die belgische Misere ohne jegliche Beschönigung und anhand ganz konkreter Beispiele deutlich benennt. Man darf gespannt sein, ob unser Ministerpräsident Oliver Paasch auch in diesem Fall mit einer publikumswirksamen Medienschelte antworten wird. Aber diesmal ist das Ganze nicht so einfach, denn die Kritik kommt sozusagen aus den eigenen Reihen. Mit einer allzu heftigen Reaktion würde unser MP nicht nur Roger Pint, sondern auch all diejenigen vergraulen, die die Kritik des couragierten Journalisten an den belgischen Zuständen teilen. Also ist aus taktischen Gründen wohl eher Schweigen angesagt...
Dieser Kommentar ist einfach Spitze. Beschreibt die Lage wie sie wirklich ist. Mehr und mehr gleicht Belgien einer Bananrepublik, in der Bürgerrechte nur noch auf dem Papier stehen. Wenn man vor Gericht geht, um sein Recht einzuklagen, hat man es mit einem Justizsystem zu tun, das einfach nicht mehr funktioniert. Ähnlich einer drittklassigen afrikanischen Diktatur. Da muss man befürschten, dass viele erst gar nicht den Rechtsweg einschlagen, sondern einfach Selbstjustiz üben.
(AdR: Beim Kommentarschreiber handelt es sich nicht um Marcel Scholzen aus Losheimergraben.)
Ich schrieb eben "rogue state" (Schurkenstaat)... Es wird idT immer surrealistischer, im Land des Surrealismus, denn der höchste Magistrat im Land schreibt heute auf der Webseite der RTBF, Belgien sei ein... Schurkenstaat, weil selbst die Justiz nur noch einen Zweck erfüllen soll: "Produziert immer mehr, aber kostet immer weniger". Die (Selbst?)Demontage des Landes ist im vollen Gang; das EU-Monster freut sich, wird es doch bald viel Platz für seine Institutionen haben...
Na dann hoffen wir mal, das die zuständigen "Verantwortliche" diesen Kommentar nicht nur lesen und ad acta legen, sondern dementsprechend handeln - allerdings bin ich da eher skeptisch - Im Endeffekt resumiert sich alles auf die Frage des Moneys, und der belgische Staat hat davon soviel, das sogar Hunderte Millionen Euro nicht von Grossbetrieben zurückverlangt werden, wenn die EU Kommission das fordert - Surrealismus - ceci n'est pas une pipe....
...."und der belgische Staat hat davon soviel, das sogar Hunderte Millionen Euro nicht von Grossbetrieben zurückverlangt werden, wenn die EU Kommission das fordert..."
Da liegt der Hund begraben. Die Prozedur um die Cents von den "Undertaker" zurück zu verlangen, ist immer noch mit Arbeit verbunden.
Bei einem "Geschäftsessen" kann die "unabhängige Justiz" (siehe Kaiserbaracke), sich mit einer Kontodaten-Übergabe in den anschließenden Mittagsschlaf (wird leider durch den gesetzlich vorgeschriebenen Feierabend unterbrochen) zurück lehnen.