Und täglich grüßt das Murmeltier... Zwar nicht jeden Morgen, aber doch in regelmäßigen Abständen hat man den Eindruck, die gleiche Geschichte erleben zu müssen. Ein Verdacht, eine Meldung, ein Vorwurf steht im Raum. Jacqueline Galant kommt in die Kammer, um Stellung zu beziehen. Und sie stiftet damit dermaßen Verwirrung, dass am Ende gleich mehrere Feuerwehrleute ausrücken müssen, um das Ganze wieder geradezubiegen.
Diesmal ging's um die Brüsseler S-Bahn, den sogenannten RER. Schon seit Wochen stand ein Bericht der Zeitung L'Avenir im Raum, wonach kein Geld mehr da ist, den vierspurigen Ausbau der Trasse auf wallonischem Boden fertigzustellen. Jacqueline Galant gab sich entwaffnend ehrlich: "Das stimmt!", sagt die Ministerin. "Der Topf ist leer! Experten sagen aber, dass es auch mit den bisherigen zweigleisigen Zug-Linien geht!"
Das muss man sich dann doch mal auf der Zunge zergehen lassen: Es geht also angeblich auch mit zwei Gleisen... Aha! Wieso hat man denn inzwischen fast alle Bahnhöfe zwischen Brüssel und Ottignies, bzw. Nivelles verbreitert? Wieso hat man denn unzählige Anrainer enteignet? Wieso müssen sich denn die Anwohner schon seit einer halben Ewigkeit Bauarbeiten antun? Das alles, um dann nach 20 Jahren zu hören, dass es auch mit zwei Gleisen gehen soll?
"Soll", die Betonung liegt auf "soll". Ohne jetzt wirklich ein Eisenbahnfachmann zu sein, aber eine normale IC-Verbindung und eine S-Bahn, das sind zwei Paar Schuhe. Eine S-Bahn kann nur dann eine wirkliche Alternative sein, wenn sie in möglichst kurzen Zeitabständen verkehrt. Wenn der RER immer wieder auf den "normalen" Zugverkehr Rücksicht nehmen muss, das kann nicht gehen. Und beim kleinsten Problem multiplizieren sich die Verspätungen...
Aber, wie dem auch sei: Plötzlich ist dann also das, was bislang schon einen Riesenaufwand mit sich gebracht hat, plötzlich ist alles obsolet, überholt, unnütz. Verschiedenen Bürgermeistern von betroffenen Gemeinden stand das Entsetzen denn auch ins Gesicht geschrieben: Was passiert denn jetzt? Bleibt's bei den offenen Baustellen, die dann womöglich einfach nur mit einer "hübschen" Plastikplane überdeckt werden?
Fragen über Fragen. Kopfschütteln, Empörung. Und das vollkommen zu Recht! Eine solche Ankündigung ist wohl die schlimmste aller Bankrotterklärungen! Zugegeben: Der Topf hat sich wohl auch nicht über Nacht geleert; und es ist bestimmt nicht ganz unbegründet, wenn Galant ihre Vorgänger - die letzten beiden waren Sozialisten - für das Debakel mit verantwortlich macht. Aber: Man kann doch nicht "mal eben" eine Milliardeninvestition in Teilen zur Bauruine stempeln, als wäre es das Normalste der Welt...
Damit nicht genug: Die Entscheidung betrifft im Wesentlichen den wallonischen RER, also die Verbindungen von Brüssel in den frankophonen Süden. Und das noch dazu ausgerechnet im blauen Brabant-Wallon. Die Provinz Wallonisch-Brabant gilt ja als Hochburg der Liberalen - nicht zuletzt ist ja auch Charles Michel der "Titular"-Bürgermeister von Wavre, wo er sich derzeit von einer Stellvertreterin ersetzen lässt.
Bei allem Respekt, aber das hat noch selten jemand geschafft. Galant hat sich nicht nur den gesunden Menschenverstand zum Feind gemacht, sondern auch noch die Wallonen und im Besonderen die eigene Partei. Das alles dann, um 24 Stunden zurück zu rudern - man hatte ihr da wohl die Ohren langgezogen - und um kleinlaut zu erklären, sie sei "falsch verstanden" worden. Wie bitte? "Falsch verstanden"? War es denn auch vielleicht eine andere Jacqueline Galant, die die entsprechenden Statements in die Mikrophone gesäuselt hat?
Das jedenfalls war die Krönung. Erst war Jacqueline Galant ja nur die Frau, die es "nicht so mit Zahlen hatte", die ein ums andere Mal Berechnungen in den Raum stotterte, die sie wenig später korrigieren musste, um sie dann am Ende doch wieder durcheinanderzuschmeißen. Dann war es die Ministerin, die einen Beraterauftrag nicht ausschreiben ließ, was den Premier am Ende dazu nötigte, von einem "unvorsichtigen" Verhalten zu sprechen. Und jetzt beerdigt sie den RER, um ihn am nächsten Tag wie durch ein Wunder wieder auferstehen zu lassen...
Vielleicht gab es bislang für Charles Michel noch einige gute Gründe, an Jacqueline Galant festzuhalten. Galant war unter anderem ein verlässlicher Stimmenmagnet in der Provinz Hennegau. Hinzu kommt: Die MR hat mit Hervé Jamar schon einen Minister durch die Hintertür aus der Regierung schleusen müssen. Und immer noch ist Jacqueline Galant nicht die einzige Schwachstelle: Energieministerin Marie-Christine Marghem hat auch schon eine beeindruckende Pannendichte aufzuweisen und galt streckenweise als die aussichtsreichere Anwärterin auf den Schleudersitz.
Nicht nur ist die Kreditlinie dieser Ministerinnen erschöpft, die MR muss sich auch langsam böse Blicke der flämischen Koalitionspartner gefallen lassen. Ganz zu schweigen von dem Eindruck, der in der Öffentlichkeit entstanden ist. Eine Regierung, die doch angeblich "alles besser machen wollte", die sähe doch ein bisschen anders aus.
Im Fall Jacqueline Galant muss sich Charles Michel jedenfalls die Frage stellen, ob es doch nicht an Zeit wäre, die Reißleine zu ziehen. Galant hat nämlich noch einige heiße Eisen auf ihrem Tisch liegen, angefangen bei den Flugrouten über Brüssel - die Akte gilt als das "Brüssel-Halle-Vilvoorde" der Lüfte. Da braucht man eine Ministerin mit Souveränität, Kragenweite, Fingerspitzengefühl und nicht zuletzt Aktenkenntnis. Allesamt Qualitäten, die man bei Jacqueline Galant bislang - mit Verlaub - noch nicht erkennen konnte.
Roger Pint - Bild: Achim Nelles/BRF