Viele haben Angst - eine vollkommen natürliche Reaktion. Und der Glaubenssatz, dass Angst ein schlechter Ratgeber sei, ist längst überholt. Angst kann Leben retten und Katastrophen verhindern, indem sie den Mut zügelt, mit Hurra ins Verderben zu laufen. Ich habe Angst: absolut okay. Die Angst hat mich: Das gilt es zu vermeiden.
Viele haben Wut nach den barbarischen Angriffen. Auch vollkommen verständlich. Selbst französische Pazifisten bekannten sich zu Gedanken wie: Diese IS-Terroristen müssen wir vernichten - mit allen Mitteln. Aber: Ist Wut der richtige Ratgeber?
Hysterie greift um sich. Kein Wunder! In jeder Ecke werden Terrorverdächtige vermutet. Razzien, Durchsuchungen, Kontrollen, Festnahmen allüberall - nicht nur in den Molenbeeks Europas. Überreaktionen bleiben nicht aus, sie werden von den Behörden lapidar damit erklärt, dass man allen Hinweisen nachgehe - im Namen der Sicherheit.
Denn die wünschen alle Bürger, und die ganz große Mehrheit befürwortet Umfragen zufolge sogar ein deutliches Mehr an Sicherheitsmaßnahmen. Dafür nimmt man gerne in Kauf, dass die eigene Freiheit begrenzt wird. Zumal der eine oder andere Fahndungserfolg zu vermelden ist.
Nicht wenige sehen sich veranlasst, der Terrorgewalt zu trotzen, indem sie sagen: Jetzt erst recht ins Fußballstadion, ins Konzert, auf den Weihnachtsmarkt. Und oft gehört: Wir lassen uns nicht von denen da unser freies Leben, unsere Werte, unsere Demokratie kaputtmachen.
Aber, wie steht es um unsere persönlichen Werte? Vor allem in den sogenannten Sozialen Medien, aber auch den Leserbriefspalten seriöser Zeitungen und den Foren durchaus renommierter Nachrichtenportale konkurrieren Hass, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Extremismus um den Spitzenplatz in der Hitparade der Geschmacklosigkeiten. Es postet und twittert die Ahnungslosigkeit. Rücksichtslosigkeit und Tempo bei der Verbreitung von Gerüchten, Halbwahrheiten und Scheininformationen verstärken den ebenso fatalen wie falschen Eindruck, dass der potenzielle Nutzer bei Facebook besser aufgehoben sei als bei den Öffentlich-Rechtlichen wie RTBF oder ARD oder etwa der Wochenzeitung "Die Zeit". Wer hintergründigen, einordnenden Journalismus erwartet, muss lernen, ein wenig zu warten...
Nicht zu vergessen: die unselige Vermengung von Terror und Flüchtlingsproblematik. Vorgelebt von namhaften, im Herzen reaktionären "Volksvertretern". Ihre rechtspopulistischen Forderungen: Grenzen schließen, Flüchtlinge abweisen, Europa als Festung verstehen.
Wem soll bei solchen Äußerungen nicht angst und bange werden?
Das eigentlich Schlimme ist: Durchgängig stimmige nationale und abgestimmte europapolitische Antworten gibt es kaum. Da reichen der verbale Schulterschluss und die Versicherung von Freundschaft nicht, und auch die Annäherung zwischen Obama und Putin ist nicht mehr als ein kleiner Hoffnungsschimmer.
Die Reaktionen Frankreichs und seiner Verbündeten auf Paris waren in den ersten Tagen von blinder Wut, und Vergeltung bestimmt. Es wird höchste Zeit, das reflexhafte Zurückschlagen durch ein plan- und zielorientiertes Handlungskonzept zu ersetzen. In Ansätzen hat die belgische Regierung durch einen ambitionierten Strategieplan zur Bekämpfung des Terrorismus' durchaus punkten können: Mehr Mittel für die Sicherheit, klare Kante im Umgang mit belgischen Syrien-Kämpfern und Hasspredigern, bessere internationale Zusammenarbeit im Kampf gegen den Terror. Und auch: Das Problem Molenbeek mit all seinen Facetten scheint erkannt zu sein und soll strukturell angepackt werden. Was wieder einmal fehlt, ist der klare Blick auf das Wesentliche: auf den Umgang der Menschen miteinander, auf das Zusammenleben, die Integration, den Abbau von Ghettos, Armut und Perspektivlosigkeit. Es fehlt darüber hinaus das Eingeständnis, dass es ein Fehler war und ist, mit Unrechtsregimen wie Saudi-Arabien und Katar zu kooperieren, die nach wie vor den sogenannten Islamischen Staat in vielerlei Hinsicht unterstützen.
Was bleibt uns in Belgien, in Europa: die Angst, die Hysterie, die Wut, der Hass, der Trotz? Gestehen wir uns ein, dass die Terrorgefahr wahrscheinlich über lange Zeit unser Leben begleiten und nachhaltig verändern wird. Wirkliche Sicherheit wird es nicht mehr geben. Das wird auch Ängste und viele Gefühlsregungen mit sich bringen. Doch dabei darf es nicht bleiben. Was wir zunächst brauchen: kluge und zugleich empathische politische Köpfe, Entscheider, die sich nicht leiten lassen von revanchistischen Gedanken, sondern als erstes den Blick lenken auf Schadensbegrenzung durch gut durchdachte Sicherheitsmaßnahmen. Was wir noch brauchen? Wer weiß das schon so genau? Niemand. Allenthalben herrscht Ratlosigkeit. Das große Ziel, eine friedlichere Welt, ein geeintes Europa: auf lange Zeit eine Utopie. Wir müssen uns wohl mit wenig bescheiden...
Rudi Schroeder