"Die Kraft der Veränderung", mit diesem Slogan ging die N-VA in den letzten Wahlkampf und sie konnte die Wähler offensichtlich überzeugen. Die Partei von Bart De Wever erzielte einen fast beispiellosen Wahlsieg...
Die Kraft der Veränderung... Erstmal konnte man meinen, die auch zu erkennen: Es wurde eine Koalition auf die Beine gestellt, die kaum einer für möglich gehalten hätte. "Kamikaze-Koalition", das Wort wurde nicht von frustrierten Sozialisten geprägt, sondern von politischen Beobachtern, die das Unterfangen wirklich und aufrichtig für allzu tollkühn hielten. Nur eine Partei auf der frankophonen Seite, die noch dazu allenfalls ein Viertel der frankophonen Wählerschaft repräsentiert, das kann nicht gut gehen, so dachten viele. Und, zwischen Klammern: Dass das Ganze jetzt doch schon ein Jahr funktioniert, das muss nichts heißen. Die Rechnung wird erst am Ende des Abends beglichen...
Aber, gut: Die vier Parteien haben den Sprung gewagt. Und genau in diesem Moment mochte man plötzlich wirklich daran glauben, dass Belgien am Vorabend einer Zeitenwende stand, nach dem Motto: "Die meinen das ernst, die drehen das Land jetzt wirklich auf links, oder... besser gesagt: mitte-rechts."
Entsprechend groß dürfte denn auch bei so manchem die Ernüchterung sein. Nicht, dass nichts passiert wäre. Die Regierung hat durchaus klare Prioritäten gesetzt, die mit Sicherheit auch zu einem erheblichen Maß - zumindest prinzipiell - in die richtige Richtung gehen; wobei die aber zugleich dermaßen polarisieren, dass die Gewerkschaften auch noch ein Jahr später wieder an die 100.000 Menschen auf die Straße gebracht haben, um gegen eben diese Politik zu protestieren.
Nein, Untätigkeit kann man der Regierung um Charles Michel nicht vorwerfen. Wohl aber ihre ideologischen Scheuklappen. Um es mal so auszudrücken: Hätte man auf das Regierungsprogramm dieser Koalition Wetten abschließen müssen, im Großen und Ganzen hätte man die auch gewonnen. Diese Mitte-Rechts-Regierung ist fast schon erschreckend vorhersehbar, sie macht klassische Mitte-Rechts-Politik, nicht weniger, aber auch nicht mehr.
Vor 15 Jahren sah das anders aus. Als 1999 der Regenbogen an die Macht kam, und mit ihm der feurige Premier Guy Verhofstadt, da hatte man - zumindest in den ersten Jahren - den Eindruck, als hätte da jemand mal ein Fenster aufgemacht Die Bilanz dieser Jahre fällt - im Rückspiegel betrachtet - zwar auch eher durchwachsen aus. Aber der rein atmosphärische Eindruck von damals, eben dass da gerade ein Ruck durch das Land geht, der fehlt heute, bei einer Regierung, die sich doch genau das auf die Fahnen geschrieben hat. Geradezu beispielhaft war da die eklatant einschläfernde Rede zur Lage der Nation von Premier Michel vom vergangenen Dienstag.
Man vermisst schlichtweg eine wirkliche Vision. Und vor allem: Mut, eben den Mut, der im Moment der Regierungsbildung fast schon im Übermaß vorhanden war. Es ist, als hätte eine Fußballmannschaft in den ersten fünf Spielminuten alles nach vorne geworfen, um sich dann in der eigenen Hälfte einzumauern.
Beispiel: der doch halbgare Tax-Shift. Eine wirkliche Steuerreform, wie sie doch alle im Wahlkampf versprochen haben, die sähe wohl anders aus. Stattdessen hat man den Eindruck, als wäre diese Regierung krampfhaft auf den vorgezeichneten ideologischen Pfaden geblieben, um die eigene Wählerschaft bloß nicht zu brüskieren. Das Thema Firmenwagen etwa ist und bleibt tabu. Gerade noch erinnerte der ECOLO-Parlamentarier Jean-Marc Nollet daran, dass die damit verbundenen Steuervorteile den Staat mehr kosten als die SNCB. Und das in einem Land, das quasi von morgens bis abends im Stau steht. Man muss doch nicht "grün" sein, um zu erkennen, dass das vollkommen absurd ist; ganz zu schweigen von den Folgen für Umwelt und Gesundheit.
Exakt diese "Gesundheit" wird dann aber wohl ins Feld geführt, um eine Limo-Steuer zu rechtfertigen, die einzig und alleine dazu dient, Haushaltslöcher zu stopfen...
Hätte eine andere Regierung es anders gemacht? Wohl nicht! Das zumindest lehrt die Vergangenheit. Insofern läuft auch die Kritik der Opposition, insbesondere der Sozialisten, ziemlich ins Leere. Wenn die PS-Fraktionsführerin Laurette Onkelinx der Regierung ihre so wörtlich "Steuern, Steuern, Steuern" vorwirft, dann sitzt sie im Glashaus. Die Sozialisten beherrschen das Spiel mit der Steuerschraube mindestens genauso gut.
Nein, was man bei der Equipe Michel vermisst, das ist eben die "Kraft der Veränderung", gepaart mit einer längerfristigen Perspektive, um vielleicht am Ende auch die Menschen zu überzeugen, die nicht zu ihrer klassischen Wählerschaft gehören...
Roger Pint - Bild: Achim Nelles/BRF