Der Verunglückte sei Syrer, wurde mir mitgeteilt, da stellte sich natürlich gleich im Kopf ein Zusammenhang her - nicht im Mittelmeer ertrunken, sondern hier in Bütgenbach. Dann: "Nicht Syrer, sondern syrische Wurzeln". Als ob das angesichts des Dramas einen Unterschied machen würde. Aber es vereinfacht die Empfindung, erleichtert es dem Kopf, nicht darüber nachzudenken, dass es Hunderte junge Männer aus Syrien sind, die ertrinken, ohne dass Feuerwehr, Zivilschutz, Taucher und Sonarboot mobilisiert werden.
Sie hätten auch gerne die Universität besucht, so wie der junge Lütticher, mit den gleichen syrischen Wurzeln, den das Team von Alain Remue tot aus dem Wasser barg, begleitet von einer Filmcrew der VRT. Sie ist dabei, über Remue und sein Team eine Reportage zu drehen. Nun, Filmteams haben die Opfer im Mittelmeer auch, für einige Sekunden in den Fernsehnachrichten. Ein Mann wie Alain Remue, der schon viel Schlimmes gesehen hat, darunter die Leichen von Stacy und Nathalie, machte im BRF die schlichte Aussage, Wasser sei nun mal gefährlich. Leider.
In Bütgenbach war es das Wasser, das Abkühlung, Lebensfreude und Sport verhieß, so, wie für so viele Nordeuropäer in unzähligen Charterflugzeugen, auf dem Weg auch zu solchen Küsten, von wo die einheimischen Fischer flüchten, weil ihre Fanggebiete leergefischt werden. Oder das Wasser, das die Touristen dorthin lockt, wo der Euro der heimischen Wirtschaft den Boden entzog, als der Schreiner keine Möbel mehr schreinerte, und jetzt ab und zu kleine Aufträge erhält, die von IKEA zu reparieren. Nachzulesen in der Frankfurter Allgemeinen, beileibe keine Linkspostille.
Auch im Mittelmeer lockt das Wasser, mit der Aussicht auf ein besseres Leben, mit der Hoffnung auf Rettung vor Bomben und Gewalt. Um im besten Fall nach Calais zu gelangen, um dort kriminalisiert zu werden, ausgerechnet von den Herolden von Liberalisierung und Globalisierung, die nicht zuletzt in London sitzen.
Aber nicht nur dort, es ist die Ausrichtung der gesamten EU, deren Vorgängerin EG einst stolz war auf faire Handelsbeziehungen mit den sogenannten AKP-Staaten Afrikas, der Karibik und des Pazifiks, oder zumindest auf den Ansatz fairer Beziehungen. Doch das ist Geschichte. Vorbei. Alles gehöre liberalisiert, der Finanzmarkt, der Arbeitsmarkt, und aktuell der Milchmarkt. Bei entsprechender Mobilität, bitteschön. Doch nehmen es junge Männer und Frauen ernst, mit dem Aufruf zu Mobilität und Deregularisierung, laufen sie Gefahr, im Mittelmeer zu ertrinken.
Spätestens jetzt sollte die herrschende - und beherrschende - Lehre begreifen, dass sie sich ideologisch wie die Katze in den Schwanz beißt: Wo ist da die Logik, das Lied der Deregularisierung zu singen, und dann denjenigen, die dies beim Wort nehmen, die Chancen zu verwehren ?
Daraus wäre eigentlich nur ein Schluss zu ziehen: Entweder, oder! Bleibt's bei der herrschenden Lehre, sollte sie für alle gelten. Will man das nicht, hat auch die reine Lehre ihre Brauchbarkeit verspielt. Dann müsste sie überprüft werden. Und tiefgreifende Korrekturen wären nötig, beim laufenden Umbau Europas.
Es ist schon zu spät, um nur Alain Remue zu zitieren, Wasser sei gefährlich. Aber er bezog diese resignierende Einsicht ja auch auf Bütgenbach und andere Badeseen. Recht hat er, der Mann, leider. An Badeseen sollte man vielleicht daraus den Schluss ziehen, Warnschilder aufzustellen, mit dem knallharten Hinweis auf die Anzahl der bisherigen Opfer. Ein Badeverbot wäre der denkbar falscheste Weg. Denn Wasser ist zu schön und zu belebend, um es dem Tod zu überlassen. Nicht hier und nirgendwo.
Frederik Schunck
Ein qualitativ hochwertiger Kommentar, der alles auf den Punkt bringt. Wenn ein System politisch, ökonomisch, moralisch und kulturell in zuviele Widersprüche gerät, verliert es das Vertrauen der Menschen und wird meist gewaltsam durch ein neues ersetzt. Das hat die Französische Revolution und in jüngster Zeit auch der Sturz des Kommunismus bewiesen. Und genauso wird es der neoliberalen Ordnung in Europa ergehn. Das ganze ist nur eine Frage der Zeit.
In Zeiten stetig anschwellender Flüchtlingsströme, auf die es offensichtlich keine konsensfähigen politischen Antworten gibt und jegliche Humanität auf der Strecke bleibt, existieren keine journalistischen Sommerlöcher, die es mit Belanglosem zu füllen gilt. Zumindest nicht im Selbstverständnis eines engagierten Journalisten.
Insofern ist der Kommentar von Frederik Schunck vor einem lokalen wie globalen tragischen Hintergrund leider auch zeitlos.
Die Analyse ist treffend und beängstigend zugleich. Wir sollten jedoch nicht vergessen:
die todbringenden Grenzen zum europäischen Kontinent beginnen in unser aller Köpfe.