Wenn in Europa vom Land des Surrealismus die Rede ist, braucht man den Namen schon nicht mehr zu nennen. Jeder weiß, dass es sich um Belgien handelt.
Zwei Monate vor Antritt der Präsidentschaft im EU-Ministerrat leistet sich Belgien einen Regierungssturz und Neuwahlen. Einen schlechteren Zeitpunkt hätte man sich nicht aussuchen können, zumal in der Finanz- und Wirtschaftskrise mehr denn je eine handlungsfähige Regierung vonnöten wäre.
Eine solche werden wir in den kommenden Monaten nicht haben, doch mit Sicherheit wird sich das 'Land des Surrealismus' in Europa der Lächerlichkeit preisgeben.
Und warum? Weil unsere Politiker seit nunmehr 40 Jahren nicht in der Lage sind, das Problem eines Wahlbezirks namens Brüssel-Halle-Vilvoorde zu lösen.
Flandern steht mehrheitlich noch hinter Belgien
Auch der nun anstehende Urnengang wird daran nichts ändern, wenn Flamen und Frankophone auf ihren starren Positionen beharren. Im Gegenteil, es besteht sogar die Gefahr, dass die flämischen Wähler gerade jenen Parteien den Rücken stärken werden, die - wie zum Beispiel der Vlaams Belang und die N-VA - am allerwenigsten kompromissbereit sind, weil ihr Fernziel nichts anderes ist als die Unabhängigkeit Flanderns, bzw. das Ende Belgiens.
Heißt das nun, dass wir in absehbarer Zeit über Belgien ein Kreuz machen können?
Vielleicht ja, aber nicht unbedingt. Erst diese Woche ergab eine Umfrage, dass ein Drittel der Flamen Belgien bereits abgeschrieben hat. Im Umkehrschluss heißt das aber auch, dass zwei Drittel noch am Fortbestehen des Landes festhalten. Es gibt also noch Hoffnung.
Um diese Hoffnung nicht auch noch zu zerstören, müssten die Frankophonen allerdings einsehen, dass man sich als Minderheit nicht über Jahrzehnte hinweg dem Willen einer Mehrheit widersetzen kann.
Flamen wollen Herr im eigenen Haus bleiben
Es gibt so gut wie keinen einzigen Flamen mehr, für den der Wahlbezirk Brüssel-Halle-Vilvoorde nicht gespalten werden muss. Der Grund liegt auf der Hand: Flandern will auf seinem Territorium das Niederländische als einzige offizielle Sprache im Umgang mit den Behörden durchsetzen.
Im Klartext: Die in Flandern lebenden Frankophonen müssen eben Niederländisch lernen oder sich anderswo niederlassen. Ob das rechtens ist, darüber kann man endlos streiten. Tatsache ist jedoch: In den sechs flämischen Randgemeinden um Brüssel, in denen die Flamen vor vierzig Jahren sprachliche Erleichterungen für die Frankophonen akzeptiert haben, wird heute praktisch nur noch Französisch gesprochen. Die Angst der Flamen, sozusagen im eigenen Haus minorisiert zu werden, ist also nicht aus der Luft gegriffen.
Somit ist die Spaltung von BHV in Flandern zu einem Symbol für den Schutz der flämischen Identität geworden, ein Symbol, das man unter keine Umständen aufgeben wird. Realistisch betrachtet ist daraus zu schlussfolgern, dass den Frankophonen zur Rettung Belgiens nichts anderes übrig bleibt, als ihre rund 100.000 französischsprachigen Wähler in den flämischen Randgemeinden Brüssels zu vergessen.
Auch die von den Frankophonen bisher geforderte Gegenleistung, jene sechs flämischen Gemeinden, in denen die frankophone Bevölkerung inzwischen deutlich in der Mehrheit ist, dem zweisprachigen Brüssel einzuverleiben, wird wohl eine Illusion bleiben. Dies wäre nämlich eine Korrektur der 1963 gezogenen Sprachengrenze, die für die Flamen unantastbar ist.
Damit soll nicht gesagt werden, dass die Flamen als Gegenleistung für eine BHV-Spaltung nicht zu gewissen Konzessionen bereit sein müssen. Das sind sie auch, doch gehen die flämischen Zugeständnisse den Frankophonen nicht weit genug.
Die stärkste Ablehnung geht dabei vom liberalen Kartellpartner FDF (der Brüsseler Front der Frankophonen) aus. Dies ist insofern verständlich, als die FDF ohne den Streit mit Flandern ihre politische Existenzberechtigung verlieren würde. Deshalb wäre die liberale MR gut beraten, sich von der FDF zu trennen, so wie die flämischen Christlichsozialen ihr radikales Anhängsel, die N-VA, fallen gelassen haben.
Dialog-Chance darf nicht verpasst werden: Es könnte die letzte sein
Vermutlich liegt darin der Schlüssel zu einem flämisch-frankophonen Dialog zwischen jenen politischen Kräften, die noch eine Lösung und eine Zukunft für Belgien wollen. Die sind gegenwärtig noch in der Mehrheit.
Damit sie es bleiben, gilt es nach den Wahlen, das heißt schon bei der Bildung der nächsten Regierung, eine Lösung für BHV zu finden und parallel dazu die Kompetenzen der Regionen und Gemeinschaften, unter Beibehaltung einer deutlichen Solidarität im Bereich der sozialen Sicherheit, weiter auszubauen.
Nur so lässt sich die Basis eines Zusammenlebens schaffen, in dem die Flamen ihre Mehrheit nicht bedingungslos ausspielen und die Französischsprachigen den zahlenmäßig überlegenen Partner nicht ständig ausbremsen.
Nur so hat Belgien noch eine Chance. Ob man sie zu nutzen bereit ist, wird sich nach den Wahlen schon sehr bald zeigen.