Plötzlich ist alles wieder da: Julie und Melissa, das unendliche Leid der Eltern. Marc Dutroux und seine ekelhafte Bande. Das Chaos rund um die Ermittlungen, die Schockstarre eines ganzen Landes. Der 24. Juni 1995 war an diesem Mittwoch. Auch 20 Jahre später.
Ob wir wollen oder nicht: Die Affaire Dutroux prägte 1995 eine ganze Generation. Die Achtjährigen von früher sind heute teilweise selbst Eltern geworden. Sehenswert ist dazu die Reportage des damaligen Morallehrers Jacques Duez. Das Drama rund um die getöteten Mädchen Julie und Melissa, An und Eefje, aber auch um Sabine Dardenne und Laetitia Delhez nahm er in den Unterricht auf. Vor laufender Kamera ging es darum, wie eine Gesellschaft mit so viel Schrecken umgehen soll. Und vor allem darf. Todesstrafe für den Mörder Dutroux oder nicht?
20 Jahre später sehen die Kinder von damals ihre Aussagen erneut - und ja - darin sind sich alle einig: Damals ist ihnen ein Stück Unbeschwertheit genommen worden. Seit dem Tod von Julie und Melissa schwebt über dem Kindsein eine Art unsichtbarer Schrecken. Das Böse lauert überall. Bei den Nachbarn oder dem Onkel, auf dem Schulweg. "Uns wurde beigebracht, Angst vor allem zu haben", erinnert sich die heute fast 30jährige Stéphanie in der Reportage. Julie und Melissa machten mit acht Jahren einen kleinen Spaziergang zur Autobahnbrücke. Nur wenige hundert Meter von ihrem Zuhause entfernt. Würde man das heute seinen Kindern erlauben? Nein, meint der Klassenkamerad von damals, Bertrand.
Belgien und die Angst vor Kindesentführungen. Der Schrecken hat jedoch auch dazu geführt, dass wir heute eines der besten Zentren für vermisste Kinder in der Welt haben: Child Focus wurde von Jean-Denis Lejeune auf den Weg gebracht. Nach dem Weißen Marsch im Oktober 1996 erhielten Angehörige von vermißten Kindern mit dem Franchimont-Gesetz Einblick in die Ermittlungen. Schließlich sollte der gesamte belgische Polizei- und Justizapparat neu geordnet werden. Dank dieser Reformen und vor allem dank Child Focus ist es nun möglich an Zahlen fest zu machen: Es gibt heute nicht mehr, aber auch nicht weniger Kinder, die gewaltsam verschleppt werden oder gar umkommen, als damals.
Trotzdem: Durchs Viertel stromern und erst zum Abendessen nach Hause kommen... und überhaupt: Das "freie Spiel", das so wichtig ist für das Erwachsenwerden. Das alles ist ein bisschen altmodisch geworden. Immer seltener sind auf der einen Seite jene Eltern, die das zulassen - immer seltener sind aber auch die Kinder, die es tatsächlich können. Die Freizeit wird organisiert. Aus diesem Raster, ins echte Leben auszubrechen, wird für viele Kinder und Jugendliche immer schwieriger. Im virtuellen Raum lockt jedoch die grenzenlose Freiheit. Welches Selfie bekommt die meisten Likes? Viele kleine Videokünstler lassen uns auf YouTube direkt in ihr Kinderzimmer gucken... dieses digital geprägte Aufwachsen ist nicht zu verteufeln. Doch so, wie es eine Straßenverkehrsordnung gibt, braucht es auch Regeln im Netz. Wer diese nicht beigebracht bekommt, für den wird das Surfen im Internet gefährlicher, als unbedacht die Straße zu überqueren.
Hundertprozentige Sicherheit gibt es nie. Das macht unsere Aufgabe als Gesellschaft umso wichtiger, gemeinsam für alle Kinder da zu sein. Wie unterstützend das Internet dabei sein kann, zeigte sich jüngst, als es in Raeren einen Entführungsversuch gab. In kürzester Zeit waren über die sozialen Netzwerke sämtliche Kinder und Eltern gewarnt. Das Internet ist jedoch auch der ideale Tummelplatz, für jene, die Böses im Schilde führen. Die virtuelle Freiheit kann mit einem Klick zur realen Gefahr werden. Eltern müssen wissen, was ihre Kinder im Internet tun. Und noch mehr: Sie müssen ihnen ein sicherer Wegweiser im Netz sein. Sonst werden Smartphones und Computer im Kinderzimmer gefährlicher, als kleine, unbeaufsichtigte Ausflüge.
Simonne Doepgen - Bild: Achim Nelles/Kamerateam PGmbH