Die Krise schwelt weiter. Nach dem Rücktrittsgesuch von Premierminister Yves Leterme hat König Albert der Zweite heute seine Konsultationen fortgesetzt. Unter anderem traf er mit den Präsidenten der wichtigsten politischen Parteien des Landes zusammen. Den Rücktritt der Regierung hat das Staatsoberhaupt bislang noch nicht angenommen. Das sorgt für eine gespannte Ruhe.
Erst am Montag wird es wieder Bewegung geben, wenn das Präsidium der Kammer zusammenkommt. Dann könnte der Gesetzesvorschlag zur Spaltung des Wahlbezirkes Brüssel-Halle-Vilvoorde auf die Tagesordnung der Kammer gesetzt werden, wo dann also ein Alleingang der flämischen Parteien droht.
"Belgien verdunstet". Dieser Ausspruch stammt von Jean Quatremer, dem Belgien-Korrespondenten der französischen Zeitung "Libération". Was dem krisenerprobten Belgier vielleicht gar nicht mehr auffällt, ist augenscheinlich für außenstehende Belgienkenner inzwischen unübersehbar: Belgien steht am Scheideweg!
Diese Krise ist eine Krise zu viel. Die Liveschaltungen der Fernsehstationen aus den Brüsseler Nervenzentren mochten mitunter anmuten wie seinerzeit die berühmte, gefakte RTBF-TV-Sendung "Bye Bye Belgium", die das fingierte Ende Belgiens live im Fernsehen in Szene setzte. Nur eben, dass es diesmal nicht den Vermerk gab: "Dies ist eine Fiktion".
Erst der Coup des Alexander De Croo. Gleich was die flämischen Liberalen da beseelt hat, ob nun wahltaktische Gründe oder die Profilneurose eines blutjungen Parteipräsidenten - oder beides zugleich: Es zeugt von totaler Verantwortungslosigkeit. Die sozial-wirtschaftliche Lage, der anstehende EU-Ratsvorsitz, die Aussicht auf eine schier unlösbare Staatskrise: All das wird mit erschreckendem Zynismus in Kauf genommen. Denn es gab - abgesehen von einem ohne Not formulierten Ultimatum - keinen wirklich triftigen Grund für einen solch spektakulären Schritt. Im Gegenteil: Die Stimmung am Verhandlungstisch sei sehr konstruktiv gewesen, allgemein habe der Wille vorgeherrscht, zu einer Einigung zu gelangen. Da sind sich - für einmal - alle einig, eben mit Ausnahme der flämischen Liberalen.
Das Verhalten der Open-VLD lässt nur eine Schlussfolgerung zu: "Belgien" spielt keine Rolle mehr. Wer augenscheinlich aus niederen wahltaktischen Beweggründen ein Land im derzeitigen Kontext wissentlich und ohne Not ins Chaos stürzt, der ist entweder von allen guten Geistern verlassen, oder eben, er denkt schon in einem anderen institutionellen Rahmen.
Noch offensichtlicher wurde das wenige Stunden später. In der Kammer wurde die verdatterte Öffentlichkeit Zeuge eines Schauspiels, das fast schon vorrevolutionär anmutete: Trotz der Tatsache, dass Premier Yves Leterme den Rücktritt der Regierung eingereicht hatte, wollten die flämischen Parteien die Kammer zusammenkommen lassen. Umgehend sollte der Gesetzesvorschlag zur Spaltung des Wahlbezirkes Brüssel-Halle-Vilvoorde auf die Tagesordnung gesetzt, eine Abstimmung anberaumt und die Spaltung von BHV besiegelt werden.
Ein flämischer Coup de Force, und das ausgerechnet in einer äußerst heiklen Phase des relativen Machtvakuums, wo das Parlament eigentlich ruht. Das wäre einem Putsch gleichgekommen, einer absoluten Negierung des belgischen Modus Vivendi, man mag es kaum aussprechen: einer Kriegserklärung.
Schockierend vor allem: dieser Versuch ging von ALLEN flämischen Parteien aus. Ein wahnwitziger Dominoeffekt, der Extremisten wie einst staatstragende Parteien gleichermaßen erfasst hatte.
Dass es wahrlich historische Momente waren, hatten bezeichnenderweise die Rechtsextremisten des Vlaams Belang durchaus erkannt: Eine Gruppe Belang-Abgeordneter setzte sich in die leere Abgeordnetenkammer und stimmte den "Vlaamse Leeuw" an, die flämische Hymne. Von den Zuschauerrängen prangten Banderolen mit Hetzparolen und der Forderung nach einem autonomen Flandern. Jedem Demokraten, der Zeuge des triumphalistischen Geschmetters der Rechtsextremisten geworden ist, pfeifen noch die Ohren. Ein beispielloser, schockierender Vorgang, vor den Augen der Saaldiener, die untätig blieben. Eine Entweihung der heiligen Hallen der Demokratie, der BELGISCHEN Abgeordnetenkammer, was im derzeitigen, momentweise fast schon apokalyptischen Kontext seine Wirkung nicht verfehlt hat.
Die ominöse Kammersitzung kam bekanntlich nicht zustande. Noch nicht.
Nach zweieinhalbjähriger Dauerkrise mit fünf Rücktritten des unglücklichen Yves Leterme muss man den Realitäten ins Auge blicken: Dieses Belgien in seiner derzeitigen Form ist dem Untergang geweiht. Flandern denkt zunehmend flämisch. Im Unterschied zu früheren Krisen dieser Kragenweite gibt es ja inzwischen auch eine Institution "Flandern", die Region als Keimzelle für ein autonomes Flandern. Und die flämische Sache hat längst eine Eigendynamik entwickelt, die alles und jeden mitreißt. Selbst Parteien, die es vielleicht nicht auf eine Kraftprobe in der Kammer ankommen lassen wollten, konnten nicht anders, als in den Chor der Extremisten einzustimmen.
Die Frankophonen haben diese Gefahr viel zu spät erkannt. Mit ihrer jahrelangen Weigerung, über flämische Forderungen überhaupt zu diskutieren, haben sie alles nur noch schlimmer gemacht. Jetzt beißt sich die Katze in den Schwanz: Je länger dieses Trauerspiel dauert, desto kompromissloser und weitreichender werden die flämischen Forderungen, was dann wiederum auch die Weigerung der Frankophonen wieder nachvollziehbar macht, auf diese Drohgebärden und Maximalforderungen einzugehen.
Ausbrechen kann man aus dieser Spirale nur, wenn man irgendwann die Gretchenfrage stellt: Was wollen wir noch zusammen machen, und was nicht! Klar wäre das wohl das Ende des Staatsgefüges in seiner derzeitigen Form. Nur: Wer sich dieser Diskussion verweigert, der läuft eine noch größere Gefahr: Der riskiert das Ende Belgiens.