Bislang wurden 18 Todesopfer geborgen, über 160 Menschen wurden bei dem Unglück verletzt. Die Ursache für die Kollision der beiden Personenzüge ist noch unklar -allgemein wird aber davon ausgegangen, dass einer der beiden Lokführer ein Haltesignal missachtet hat.
Längst weiß man, dass es technische Sicherheitsriegel gibt, die so etwas verhindern würden: Nur hinkt Belgien hier nach wie vor gnadenlos hinterher. Dafür allerdings will niemand die Verantwortung übernehmen.
Es ist erbärmlich! Was da unmittelbar nach der Katastrophe von Buizingen zum Besten gegeben wurde: Ein würdeloses Trauerspiel. Das Karussell der Schuldzuweisungen rotierte immer schneller: Am Ende wurde gar die EU-Kommission - zumindest indirekt - für das Unglück verantwortlich gemacht. Lächerlich!
Doch hat das Ganze System. Hier werden ganz bewusst so viele Bäume gepflanzt, wie eben möglich, damit man am Ende bloß den Wald nicht mehr sieht. Man bekommt dargelegt, wie kompliziert die heutige Struktur der SNCB ist, die ja inzwischen aus einem Dach - der SNCB-Holding - und zwei Unterabteilungen besteht: Infrabel, das für die Infrastruktur zuständig ist, und die SNCB, die sich im weitesten Sinne um den Transport kümmert.
Und dann wird weinerlich vorgerechnet, was die Politik von der Bahn verlangt: Vergrößerung des Angebots, Steigerung der Zahl der Fahrgäste, Pünktlichkeit. Das alles verbindlich, versteht sich, und noch dazu bei in etwa gleichbleibenden Mitteln.
Mag ja alles sein. Nur muss -ungeachtet aller äußeren Zwänge - eine Frage erlaubt sein: Wie kann es sein, dass knapp zehn Jahre nach Pécrot erst ein Bruchteil aller Züge mit einem automatischen Notbremssystem ausgestattet ist, das ein Überfahren eines Haltesignals unmöglich macht? Zwar liegt das offizielle Ergebnis der Ermittlungen noch nicht vor, doch räumte selbst Infrabel-Chef Luc Lallemand schon gleich nach der Katastrophe ein, dass damit wohl das Unglück hätte verhindert werden können.
Und dann noch die peinliche Feststellung obendrauf: Andere Bahngesellschaften haben es offensichtlich in demselben Europa geschafft, ihre Züge mit einem solchen technischen Sicherheitsriegel auszustatten.
Doch diese Frage, also ob man alle Lehren aus Pécrot gezogen hat, diese Frage darf man hierzulande offensichtlich nicht stellen. Und hier geht es nicht darum, am Ende ein Opferlamm zur Schlachtbank führen zu können. Hier geht es nicht um Lynchjustiz. Hier geht es um Verantwortung.
Verantwortung, genau das scheint in diesem Land ein Fremdwort zu sein. Keine Selbstkritik, kein Bedauern. Auf die Gefahr hin, dass sich die Hypothese mit dem überfahrenen Haltesignal bestätigt, wird da schon schamlos auf andere verwiesen, oder auf Vorgänger, die dann wieder auf ihre Vorgänger verweisen. Vor dem jetzigen SNCB-Führungstrio gab es in den letzten zehn Jahren drei Bahnchefs und noch einmal fünf Aufsichtsminister… Verantwortung wird damit schnell auf homöopathische Mengen reduziert.
Doch auch die selbsternannten Aufräumer glänzen durch Heuchelei. Wenn jetzt der Vorsitzende des zuständigen Kammerausschusses - der bislang weitgehend unbekannte MR-Politiker François Bellot - gnadenlose Aufklärung fordert, wenn er gleich im Alleingang über die Schaffung eines Untersuchungsausschusses schwadroniert, dann sollte auch er sich einmal die Frage stellen, ob sein Ausschuss da in den letzten Jahren nicht auch geschlafen hat. Eben diese Kommission soll doch auch der Bahn auf die Finger schauen. Oder wird der Herr Bellot am Ende dann auch auf seine Vorgänger verweisen?
Stichwort scheinheilig: Wenn das Ganze nicht auch noch einen unappetitlichen parteipolitischen Beigeschmack hätte! Warum wohl plädiert etwa die MR für einen Untersuchungsausschuss? Und warum polterte etwa PS-Chef Elio Di Rupo, man solle jetzt doch bitte den Ball flachhalten? Und warum sind hier sogar die Grünen für einmal gespalten? Groen! wäre für einen Untersuchungsausschuss, Ecolo dagegen. Ganz klar: Ecolo hat in der Vergangenheit mit Isabelle Durant eine Transportministerin gestellt, Luc Lallemand, der Chef von Infrabel, war einst Mitarbeiter des PS-Ministers Michel Daerden. Die MR liefe in dieser Akte dagegen nicht Gefahr, dass sich ein Blauer unschöne Fragen gefallen lassen müsste. Und diese Argumentation ließe sich beliebig fortsetzen.
Anders gesagt: Die Frage, wer, wie, wo, wann zuständig oder verantwortlich war, darf nur dann gestellt werden, wenn man sicher ist, dass nicht einer der eigenen Leute ins Fadenkreuz gerät.
Verantwortung. Das bedeutet nicht, sich brav und naiv selbst ans Messer zu liefern, das bedeutet vielmehr, dass man nicht nur dann am Ruder steht, wenn die Sonne scheint, sondern auch dann, wenn es stürmt. Und, um das Bild weiterzuspinnen: Wenn das Schiff untergeht, kann man auch nicht hingehen, und erklären, man habe es ja nicht gebaut…
Am Ende wird man, wie so oft, einen Systemfehler diagnostizieren. Kollektives Versagen, Verkettung unglücklicher Umstände. Das System verselbständigt sich damit: Diejenigen, die es gestalten sollen, machen sich mit einem Mal zu dessen Spielball.
In Belgien gibt es immer erst dann den großen Aufschrei, wenn es zu einer Katastrophe kommt. Dabei sind viele dieser Probleme längst latent, oft absehbar, gewissermaßen vorprogrammiert. "Gouverner, c'est prévoir", sagt der Franzose: regieren, das heißt vorausschauend agieren. Doch warum sollte das jemand tun, wenn er doch weiß, dass Verantwortung hierzulande am Ende meist ein loses Wort ist?