Der Vorfall liefert zunächst einen weiteren Beweis für die unterschiedliche Wahrnehmung ein und desselben Ereignisses je nach Seite der Sprachgrenze. Vor allem aber illustriert er einmal mehr altbekannte belgische Probleme.
Manchmal ist es tatsächlich mehr als nur eine Sprachgrenze. Ein und dasselbe Ereignis in Brüssel: die flämische Zeitung "De Standaard" bringt zehn Sonderseiten, die frankophone Zeitung Vers l'Avenir… gar nichts, kein Wort. Das Thema Sicherheit, Kriminalitätsbekämpfung spaltet das Land, legt die Mentalitätsunterschiede zwischen Nord und Süd offen.
Der Vorfall ist eigentlich alles andere als banal: drei Täter, die sich mit der Polizei eine spektakuläre Verfolgungsjagd quer durch Brüssel liefern; die nicht zögern, die Heckscheibe einzuschlagen, um mit ihren Kalaschnikows besser das Feuer auf die verfolgenden Polizeiwagen eröffnen zu können. Die, als sie sich einer Straßensperre nähern, kurzerhand die Schussrichtung ändern und durch die Frontscheibe weiterfeuern. Und das Ganze am helligten Tag.
In Flandern schlug der Vorfall hohe Wellen. Vom Wilden Westen war da in der Presse die Rede; über No-Go-Areas wurde schwadroniert, Gegenden, wo die sich noch nicht einmal mehr die Polizei hineinwagt. Der gemeine Flame konnte den Eindruck bekommen, dass er bei seinem nächsten Brüssel-Trip auf keinen Fall die kugelsichere Weste vergessen sollte.
So gnadenlos überzogen die flämische Haltung, so entwaffnend verniedlichend die Reaktion auf frankophoner Seite. Das Ganze sei letztlich doch ein -wenn auch spektakuläres- "Fait divers", eine Meldung für die Rubrik "Verschiedenes", gab der Brüsseler Bürgermeister Freddy Thielemans zu Protokoll. Dieses Wörtchen "Fait divers" war wohl der meist zitierte Ausspruch der letzten Tage.
Beide Haltungen sind falsch. In Flandern schlägt wieder einmal die Stunde des Aktivismus: Emotionen und Zeitdruck erzeugen meist ein ungesundes Gemisch. Plötzlich sieht sich die Politik genötigt, da, wo bislang Ohnmacht, Gelassenheit und/oder Gleichgültigkeit vorherrschten, mit einem Mal demonstrativ Tatendrang und Entschlossenheit an den Tag legen. Das aber ist Mediendemokratie, Emokratie, versetzt mit einem gehörigen Maß an Heuchelei. Wer zu schnell zu vordergründig weil bewusst medienwirksam agiert, der vermittelt zwar den Eindruck der Tatkraft; der gnadenlose Einsatz eines Hochdruckreinigers -wie einst vom wahlkämpfenden Nicolas Sarkozy versprochen- säubert aber allenfalls die Oberfläche, löst damit nicht die Probleme an der Wurzel.
Die Probleme nicht beim Namen zu nennen, das löst sie aber auch nicht. Streng genommen hat Thielemans vielleicht Recht: der fragliche Vorfall ist -gleich, was da mitunter kolportiert wird- eher außergewöhnlich. Doch wie heißt es so schön: Ausnahmen bestätigen die Regel. Man darf behaupten, dass es sich hier um die Spitze eines Eisbergs handelt. Es muss ja nicht immer gleich mit Kalaschnikows geschossen werden. Die Frage nach der tatsächlichen Unsicherheit in verschiedenen Vierteln muss gestellt werden dürfen.
Es gibt ihn, den Nährboden, auf dem Gewächse wie die drei skrupellosen Cowboys gedeihen können. Es gibt es, das vielzitierte Gefühl der Straffreiheit bei einer Reihe von jugendlichen Straftätern, um nicht zu sagen ein Gefühl der Unverwundbarkeit. Justiz und Polizei prangern es immer wieder an: Unruhestifter, die man gerade erst gestellt hat, stolzieren wenig später schon wieder mit einem breiten Grinsen durch die Straßen: in den Strafvollzugseinrichtungen gibt es nur Platz für die wirklichen Härtefälle.
Klar muss man auch die Frage nach den Wurzeln des Übels stellen: Kleinkriminalität und Armut wachsen auf einem Holz; Arbeitslosenzahlen und Kriminalitätsstatistiken weisen ähnliche Kurven auf. Sozialarbeiter durch Polizisten zu ersetzen, ist nicht die Lösung; mehr denn je gilt es, den Menschen, die in veritablen Parallelwelten leben, Perspektiven zu geben. Doch bei allem Verständnis und aller Toleranz: Grenzen sind Grenzen, und wenn ein Staat irgendwann als Hüter eben jener Grenzen nicht mehr ernst genommen wird, dann droht im wahrsten Sinne des Wortes Grenzenlosigkeit.
Auf den Aktivismus aus Flandern antwortet der Frankophone Landesteil also mit demonstrativer Gelassenheit. Wenn jedoch schon ein Problem je nach Seite der Sprachgrenze fundamental unterschiedlich wahrgenommen wird, bis hin zu der Frage, ob es sich überhaupt um eins handelt, dann muss man nicht fragen, wie schwer es geworden ist, in diesem Land zu regieren, zu reagieren. Kein Wunder, dass dem Ganzen in Nullkommanix wieder ein gemeinschaftspolitisches Problem entwachsen ist.
Die Frankophonen sehen im flämischen Aktivismus den Versuch einer feindlichen Übernahme der Hauptstadt durch den Norden des Landes, die Flamen sehen Brüssel aufgrund seiner Französisierung als ein weiteres Opfer des lateinischen Schlendrians und Laisser-Faire.
Meinungsunterschiede sozusagen reflexartig als Beweis für die Unmöglichkeit des Zusammenlebens anzusehen, ist in doppeltem Sinne kontraproduktiv und zudem gänzlich egomanisch engstirnig: erstens: man könnte ja vielleicht voneinander lernen; und zweitens: aus allem und nichts einen gemeinschaftspolitischen Konflikt zu machen, löst die Probleme der Menschen nicht. Und dafür sind die Damen und Herren in Brüssel doch eigentlich gewählt worden.