Für so manchen war die Krise bislang eher abstrakt; man weiß zwar um den Ernst der Lage -schließlich hört man nichts anderes, doch halten sich die direkten Folgen für den Alltag der Menschen noch meist in Grenzen. Jetzt, langsam aber sicher, wird die Krise greifbar, zeigt ihre hässliche Fratze. In Lüttich droht ein sozialer Kahlschlag, der an die schlimmsten Zeiten der Stahlkrise erinnert; insgesamt 2.200 Arbeitsplätze stehen hier auf der Kippe. Für die Arbeiter gibt es noch die Alternative Kurzarbeit, vielen Angestellten droht in Ermangelung einer solchen Möglichkeit die Arbeitslosigkeit. Das Versprechen der Arcelor-Mittal-Führung, diese Mitarbeiter gleich wieder einzustellen, wenn sich die Lage wieder einpendelt, ist da nur ein schwacher Trost. Derzeit vermag niemand zu sagen, wann der Konjunkturmotor wieder anspringt. Und selbst wenn sich die Wirtschaft irgendwann erholt: in der Zwischenzeit wird die Krise eine Schneise der Verwüstung hinterlassen haben. Die Auto- und die Stahlindustrie machen nur den Anfang, das ist keine vage Befürchtung, das ist leider eine Tatsache.
Eine Tatsache, von der die Politik derzeit allerdings offenbar nichts wissen will.
Und das soll eigentlich noch nicht einmal eine Anspielung auf die Vergnügungsreise der wallonischen Regionalabgeordneten sein. Wobei man zugeben muss: eine zynischere Karikatur hätte man kaum liefern können. So nach dem Motto: genau zu dem Zeitpunkt, wo die 8 parlamentarischen Auslaufmodelle, Jean-Claude Van Cauwenberghe und Michel Lebrun vorne weg, zum Dank für ihre langen Dienste einen Helikopterflug über den Grand Canyon und die Wüste von Arizona genießen, verwandelt sich ihre Wallonische Region wieder ein bisschen mehr in ökonomisches Ödland. Die Parlamentarier haben zwar immer noch das Recht und die Möglichkeit, das Bild gerade zu rücken. Dass die Reise aber zumindest anrüchig ist, das haben die drei beteiligten Parteien PS, MR und CDH eigentlich schon unumwunden zugegeben; die Kommuniqués, in denen man sich mehr oder weniger deutlich distanzierte und die Rückzahlung der Kosten gelobte, sind nichts anderes als kleinlaute Schuldeingeständnisse.
Die offensichtliche Realitätsferne, die die wallonischen USA-Kundschafter an den Tag legen, ist hier aber nur sozusagen die realsatirische Spitze des Eisbergs. Während die einen in San Francisco die Seele baumeln lassen, stecken die anderen nämlich in Brüssel den Kopf in den Sand. Noch nie hat eine Wahl für so viel und so lange andauernde Lethargie gesorgt. Nichts, rein gar nichts hat sich in den letzten knapp 2 Jahren bewegt. Seit dem 10. Juni 2007 starrt die Politik -wie das Kaninchen vor der Schlange- auf den 7. Juni 2009. Zwei Jahre Stillstand, kann kommen, was will. Dass der Staatshaushalt in Trümmern liegt, und der budgetäre Wiederaufbau Jahre dauern wird, daran mag die Politik derzeit aber bloß nicht erinnert werden.
Nach dem derzeitigen Fahrplan, den die Regierung bei der EU-Kommission hinterlegt hat, wird der Staatshaushalt 2015 wieder ins Gleichgewicht gebracht. Das bedeutet konkret: bis 2015 müssen irgendwo insgesamt 16 Milliarden Euro gefunden werden. Wie man dieses Ziel erreichen soll, dazu wollte sich bislang niemand äußern. Dass da die üblichen One-Shots -sprich beispielsweise Immobilienverkäufe- nicht ausreichen werden, ist überdeutlich; Worte wie 'Sparmaßnahmen' oder 'Steuererhöhungen' will aber niemand in den Mund nehmen. Anders als mit besagten Daumenschrauben wird man ein strukturelles Defizit aber nicht abbauen können.
Und das sind keine abstrakten Zahlenspielchen, die in jedem Fall nicht nur Experten hinterm Ofen hervorlocken sollten. Hier geht es nämlich um nicht weniger als die Zukunft unseres Sozialsystems. Vor Ausbruch der Krise hatte die EU-Kommission nicht umsonst die Mitgliedstaaten dazu angehalten, bis spätestens 2010 ausgeglichene Haushalte vorzulegen. Danach sollten Überschüsse erzielt werden, nicht aus Spaß an der Freude, sondern um den drohenden Rentengau aufzufangen. Von diesem Ziel ist Belgien mit einem Haushaltsdefizit von wohl über 4 Prozent inzwischen meilenweit entfernt. Statt nun für die mageren Jahre vorzusorgen, können Belgien und andere Staaten also froh sein, wenn sie 2015 wieder eine schwarze Null schreiben. Und 2015, das ist genau das Jahr, das von Experten als Stichdatum genannt wird: dann -umgekehrte Alterspyramide lässt grüßen- werden die Kosten für die Rentenzahlungen beginnen zu explodieren. Und Belgien steht dann da mit einem hoffentlich gerade wieder ausgeglichenen Haushalt, aber einer astronomischen Staatsschuld, die schon jetzt wieder mit großen Schritten auf die Marke von 100-Prozent des Bruttoinlandsproduktes zusteuert.
Das sind düstere Aussichten, und das ist leider keine Floskel. Im Klartext: in den nächsten Jahren wird der Spielraum gleich Null sein. Erst die Haushaltssanierung, dann der Rentengau: da darf jetzt nun wirklich nichts Unvorhergesehenes mehr passieren; das Löschwasser ist aufgebraucht.
Nur will das im Augenblick niemand zugeben; gemäß der Maxime: wer unbequeme Wahrheiten verbreitet, der gewinnt in den seltensten Fällen eine Wahl.
Hier spielt die Politik mit dem Feuer: der Knall ist eigentlich vorprogrammiert; nur wenn ihn keiner ankündigt, wenn die Politik den Bürgern nicht reinen Wein einschenkt, dann droht ihr in absehbarer Zeit der Verlust des letzten Restes an Glaubwürdigkeit. Die acht wallonischen Globetrotter leisten da im übrigen noch peinliche Vorarbeit. In Belgien ist das Siechtum der Wirtschaft leider gepaart mit politischer Verantwortungslosigkeit. Wo sind die Politiker, die den Mut haben, weit über die nächsten Wahlen hinaus zu denken? Diese Krise kennt nämlich keinen Wahltermin.
Arcelor-Mittal ist nur der Anfang - ein Kommentar
In dieser Woche hat die Krise voll zugeschlagen. Der Stahlgigant Arcelor-Mittal hat dem Lütticher Stahlbecken einen herben Schlag versetzt. Zusätzliche 1000 Arbeitsplätze stehen dort auf der Kippe; das Hütten- und auch das Warmwalzwerk werden bis auf weiteres krisenbedingt stillgelegt. Zwar verspricht der Stahlkonzern, die betroffenen Fabriken, sobald sich die Nachfrage wieder einpendelt, wieder hochzufahren. Doch könnte die Zeit, bis der Konjunkturmotor denn auch wirklich wieder anspringt, nicht nur für das Lütticher Stahlbecken, noch lang und schmerzhaft werden. Als wäre das schon schlimm genug, sind die Staatsfinanzen nachhaltig entgleist. Und die Situation ist viel schlimmer, als es die Politik derzeit zugeben will, meint Roger Pint in seinem Kommentar...