So kann es nicht weitergehen! Merken die Damen und Herren nicht, dass man ihre taktischen Schachzüge, und seien sie auch noch so ausgebufft, gar nicht mehr wahrnimmt? Dass die Bürger in dem Augenblick, wo eine der schwersten Wirtschaftskrisen der letzten Jahrzehnte droht, von ihren Politikern etwas anderes erwarten, als Provinzpossen und Personaldebatten?
Krise hin oder her: Die OpenVLD will Dehaene nicht, die CD&V will Verhofstadt nicht, die PS will Reynders nicht. Jeder hat Angst, der jeweils andere könnte allzu sehr punkten. Das geht so weit, dass zumindest eine Fraktion innerhalb der CD&V - und jetzt wird es richtig aberwitzig - eigentlich auch Van Rompuy nicht will, eigentlich doch einen Mann aus den eigenen Reihen.
Van Rompuy könnte ja Leterme gefährlich werden. Ja, eben jenem Yves Leterme, den so mancher für den schlechtesten Nachkriegs-Premier hält. Der Mann, der kein Fettnäpfchen ausgelassen hat, will nicht einsehen, dass seine Glaubwürdigkeit in Trümmern liegt und es vielleicht besser wäre, erstmal an der Seitenlinie zu bleiben.
Stattdessen wird er schon als Nachfolger von Karel De Gucht gehandelt, falls der Außenminister im Herbst in die EU-Kommission wechselt. Dass Leterme und Vandeurzen von den Vorwürfen der versuchten Einflussnahme rein gewaschen werden, ist anscheinend nur eine Formalität. Der neue Justizminister Stefaan De Clerck hat jedenfalls schon einmal die Ergebnisse der noch zu schaffenden Untersuchungskommission vorweggenommen: Rehabilitierung für beide, Ehrensache.
Natürlich gilt die Unschuldsvermutung auch für Leterme und Vandeurzen. Nur muss diese Vermutung ja nicht automatisch richtig sein. Diese Koalition versucht aber gar nicht erst, so zu tun, als wolle sie Klarheit und Transparenz schaffen.
In politischen Brüssel sind Worte wie "peinlich" oder "zynisch" offensichtlich aus dem Wortschatz gestrichen worden. Der Frankophone spricht in diesem Zusammenhang von "politique politicienne": Politik der Politik wegen - Strategiespielchen statt Sinn fürs Gemeinwohl.
Wenn die Politik den Eindruck hat, sich ein solches Trauerspiel vor den Augen der Wähler leisten zu können, dann gibt es dafür nur eine mögliche Erklärung: Der Feind sitzt nicht etwa auf den Bänken der Opposition - ansonsten müsste man ja befürchten, die Opposition könnte von dem ganzen Theater profitieren. Nein! Vielmehr befindet sich der Feind in der eigenen Koalition - und hier gilt das Motto: Stillstand ist immer noch besser als ein Erfolg, den der Gegner für sich beanspruchen könnte. Und der Gegner, das ist nicht unbedingt die jeweils andere Sprachgruppe. Im Gegenteil.
In Flandern steht die CD&V 18 Monate nach der Wahl und 6 Monate vor der nächsten vor einem Scherbenhaufen: mit dem Kartell ist auch der komfortable Vorsprung Geschichte. Mister 800.000 Vorzugsstimmen Yves Leterme ist erstmal verbrannt und auch die große Staatsreform, die die Christdemokraten vollmundig versprochen hatten, ist nach wie vor ein frommer Wunsch.
Resultat: die OpenVLD wittert Morgenluft, versucht die Christdemokraten bei jeder Gelegenheit in die Enge zu treiben. Dabei nimmt man in Kauf, dass sich die CD&V am Ende zu einem unheilvollen Amoklauf versteigt.
Auf frankophoner Seite sieht das beileibe nicht anders aus. Spätestens seit dem 10. Juni 2007 tobt ein offener Krieg zwischen den Liberalen und den Sozialisten. Tiefschläge sind die Regel. PS und MR stehen sich mit gezückten Messern gegenüber, gönnen sich nichts, nicht den kleinsten Erfolg.
Für Champagnerlaune gibt es also keinen Anlass, auch dann nicht, wenn eine Krise vergleichsweise schnell gelöst wird. Lobenswert ist allenfalls, dass Herman Van Rompuy, der den Job des Premierministers gar nicht wollte, sich doch hat breitschlagen lassen. Jetzt können zumindest einige wichtige Maßnahmen umgesetzt werden, die von der Vorgängerequipe liegen geblieben waren.
Doch das dürfte es dann auch gleich wieder gewesen sein. Mehr denn je droht eine allgemeine Pattsituation. Erst, wenn die Wahlen im Juni gelaufen sind, öffnet sich ein Fenster, dann wäre vielleicht mal besonnene und ernsthafte Arbeit möglich. Es sei denn, die Mehrheitsparteien lassen die Regierung doch noch gegen die Wand fahren und legen die Wahlen zusammen. Dann droht wieder eine Phase monatelanger Verhandlungen über eine neue Staatsreform und ein Remake der Staatskrise 2007-2008.
Dieses Land scheint tatsächlich, wie vor allem flämische Nationalisten immer wieder trompeten, "unregierbar" zu sein. Man kann aber nicht so tun als läge die Ursache nur im Sprachenstreit. Schuld ist tatsächlich vor allem eine Politikergeneration, die in erster Linie parteistrategische Interessen im Auge hat und die offensichtlich bereit ist, auf dem Altar dieser "Politique politicienne" das Ansehen dieses Landes und sogar die Glaubwürdigkeit der Demokratie zu opfern.
Einziger Hoffnungsschimmer: Herman Van Rompuy und das eben aus dem einfachen Grund, dass er der Vorgängergeneration angehört. Der neue Premier glänzte in der Kammer durch Besonnenheit, Souveränität, und Unaufgeregtheit, durch Sachverstand und nicht zuletzt, durch gesunden Menschenverstand, eine in Belgien rar gewordene Tugend.
Die Frage ist nur, ob die "jungen Wilden" wenigstens dem Weisen den Erfolg gönnen werden.