Würde der spanische Dichter Cervantes heute leben, und würde er heute seinen Don Quichote verfassen, er könnte sich da problemlos an Yves Leterme inspirieren: Yves Leterme, der Ritter der traurigen Gestalt. Er wollte der Beste sein, alles besser machen. Sein Motto: "Goed Bestuur". Frei übersetzt: Eine Regierung muss nicht nur regieren, sondern gut regieren, nicht schwafeln, sondern handeln. Stattdessen ist Leterme jetzt das Symbol für das krasse Gegenteil, für die dunkelsten politischen Stunden in diesem Land seit mindestens 20 Jahren.
Freche Leitartikler haben Leterme immer wieder Unfähigkeit unterstellt. Der geneigte Leser tat derlei Nettigkeiten dann aber immer noch irgendwie als Übertreibung oder zumindest als das mögliche Resultat der in der Tat verzwickten politischen Lage ab. "Man wird nicht per Zufall Premierminister", hat PS-Chef Elio Di Rupo einmal in diesem Zusammenhang bemerkt.
Klingt logisch. Zumal Yves Leterme sich ja außerdem mit 800.000 Vorzugsstimmen für den Posten qualifiziert hatte.
Seit gestern muss man sich allerdings die Frage stellen, ob Leterme nicht tatsächlich so eine Art Zufallsprodukt ist, ein Betriebsunfall der Demokratie. Yves Leterme hat augenscheinlich ein Kunststück fertig gebracht, was vor ihm definitiv noch niemandem gelungen ist: Er hat seinen Kopf selbst auf dem Silbertablett serviert. Ein Premierminister, der fast schon eigenhändig einen Brief verteilt, in dem fast schon wörtlich das steht, was er eigentlich zu widerlegen hofft, das ist fast schon aberwitzig.
Nur ist - jedenfalls unter den Demokraten - niemandem zum Lachen zu Mute. Um es einmal so auszudrücken: Man könnte meinen, die Politik wolle um jeden Preis der Weimarer Republik in Deutschland nacheifern. Wenn man die Demokratie ad absurdum führen will, diskreditieren will, würde man es jedenfalls nicht anders anstellen.
Wie konnte man nur? In Brüssel geht nur ein Wort um: "unglaublich!" Die Rettung der Fortis, für die sich die Regierung bis vor kurzem noch feiern ließ, war von Anfang an eine heiße Angelegenheit. Viel stand auf dem Spiel: die Rettung einer Systembank, deren Untergang wohl einen gehörigen Teil der Volkswirtschaft mit in den Abgrund gerissen hätte. Und fürs Erste konnte es so aussehen, als sei die Rettungsaktion geglückt.
Bei einer derart dramatischen Intervention hat man aber zwangsläufig nur das eigentliche Ziel vor Augen. Kollateralschäden nimmt man in Kauf. Der Kollateralschaden, das waren im vorliegenden Fall die Aktionäre, von denen einige alles verloren hatten.
Öffentlich wurde die Wut der Anleger durch die Gerichtsklagen von Modrikamen und Deminor. Unter der Decke brodelte es aber ungleich stärker. Wer ein bisschen kratzte, der wusste, dass dies nicht die Wut einiger weniger war: Zehntausende Belgier fühlten sich von der Regierung bestohlen.
Ob zu recht oder zu unrecht, das ist nicht die Frage. Angesichts eines solchen Volkszorns, und es war ein vergleichsweise weit verbreitetes Phänomen, musste sich die Regierung aber zumindest einige Fragen gefallen lassen. Diese Fragen zu beantworten hätte dazu beitragen können, dass am Ende vielleicht wirklich jeder davon überzeugt ist, dass die Aktion der Regierung die bestmögliche Entscheidung war, die einzige Alternative.
Stattdessen ließ die Regierung die Kritik an der Rettungsaktion abperlen. Sie war eben von der Richtigkeit ihres Handels vollkommen überzeugt. Die Geschichte wird ihr womöglich Recht geben, nur empfanden die sich geprellt fühlenden Anleger das als Arroganz, als Beweis für die zumindest in ihren Augen fast schon totalitäre Haltung der Regierung.
Und was macht diese Regierung, namentlich das Kabinett des Premiers? Man liefert auch noch den Beweis für diesen Vorwurf. Als sicher erscheint zum gegenwärtigen Zeitpunkt, dass es Druck aus dem Regierungsviertel auf die Justiz gegeben hat - versuchte Einflussnahme. Dieser Vorwurf kommt nicht etwa von der Presse, sondern von mit den höchsten Repräsentanten der Justiz, die in einem einmaligen Vorgang sogar vor die Presse traten.
Die desaströse Botschaft lautet also: "Demokratie und Rechtstaatlichkeit sind in diesem Land allenfalls Fassade, es herrscht die Hinterzimmerdiplomatie, Entscheidungen fallen nicht in den dafür vorgesehenen Gremien, sondern über Kegelclubconnections."
Ausgerechnet in einer Akte, die für dieses Land zumindest wirtschaftlich gesehen fast schon existentielle Bedeutung hat, lässt sich der Premier oder sein Umfeld mit dem Finger im Marmeladentopf erwischen.
Wer soll dieser Regierung, diesem Premier, der Politik insgesamt, künftig noch irgendetwas glauben? Wer wird nicht gleich an finstere Machenschaften denken, wenn Entscheidungen zu Gunsten der Regierung fallen? Es ist, als würde man einen Schiedsrichter, der der Manipulation überführt wurde, weiter Fußballspiele leiten lassen: Wer glaubt ihm noch, wenn er einen umstrittenen Elfmeter pfeift?
Und der Gipfel des Surrealismus: Die Regierung muss eigentlich im Amt bleiben, darin sind sich eigentlich alle einig. Die wirtschaftliche Lage und eben die Fortis-Akte erfordern politische Führung.
Ein Beobachter fasste es so zusammen: Die Regierung war bislang schon zu nichts imstande, jetzt ist sie noch nicht mal dazu fähig, zu stürzen. Ausgerechnet das, was dieses Land wirklich nicht braucht, könnte ihr am Ende doch gelingen.
Der Tiefpunkt - ein Kommentar
Brüssel erlebt in diesen Tagen fast schon unglaubliche Ereignisse. Ein Premierminister, dessen Beraterstab möglicherweise versucht hat, Druck auf die Justiz auszuüben, um ein Urteil im Sinne der Regierung zu erwirken. Ein Premierminister, der sich aus der Schusslinie bringen will, sich damit aber erst ins Fadenkreuz begibt. Ein Premier, der fallen müsste, aber eigentlich nicht fallen darf. Nach all den Krisen der letzten anderthalb Jahre hat die Politik in diesem Land jetzt den absoluten Tiefpunkt erreicht.