Vom Realitätssinn der Völker
Die Schweizer, bekannt als konservativ und geldorientiert, mögen keine Junkies in schicken Innenstädten, die Handtaschen rauben und Autos aufbrechen, und richteten daher als erste Fixerstuben ein und verabreichten kostenlos Heroin.
Oder die Niederländer, die aus der Tatsache, dass ein Teil der Menschheit Drogen zugetan ist, Kapital schlagen, und es damit gleichzeitig schaffen, dass mehr Ausländer ihre Coffeeshops besuchen als niederländische Jugendliche.
Die Luxemburger wollen nicht qualvoll sterben, wollen aber ihre gläubigen Landsleute auch nicht vor den Kopf stoßen: was haben sie getan? Gleichzeitig an zwei Gesetzesentwürfen gearbeitet: einem, der die Sterbehilfe, die Euthanasie, erlauben würde, und einem anderen, der die Sterbebegleitung, also die Palliativpflege, stärken würde. So handeln Völker mit ausgeprägtem Realitätsbezug.
Ein Stolperstein
Dummerweise kam den Luxemburgern ihr Großherzog in die Quere. Er wollte das Euthanasiegesetz nicht unterschreiben. Aus Gewissensnot, wie er sagte. Jean-Claude Juncker, sein Premierminister, hat schon andere Sachen geritzt, zum Beispiel den Euro aus der Taufe gehoben, aber was er jetzt seinem Souverän vorgeschlagen hat ist wahrlich kein Meisterwerk: Henri brauche den Entwurf jetzt nicht mehr zu billigen, sondern lediglich noch zu verkünden.
Aber bitte: wo ist denn da der Unterschied? Klar, billigen täte er als Teil der gesetzgebenden Gewalt, und verkünden tut er als Teil der ausführenden. Das ist ein Unterschied, über den Jurastudenten bei der Prüfung Bescheid wissen müssen, aber im Lichte von Gewissensnot ist es doch Haarspalterei, setzt er doch mit seiner Unterschrift das Gesetz in Kraft. Ob er es nun billigt oder verkündet. Noch mal: wo ist da der Unterschied?
Was wäre möglich gewesen?
Glaubwürdigkeit ist etwas Anderes. Henri, wenn er denn von Gewissensnot geplagt wurde, hatte mehrere Möglichkeiten: als verfassungsmäßiger Monarch das Gesetz zu unterzeichnen ohne wenn und aber. Oder aber seinem alleinigen Gewissen zu gehorchen und zu erklären, damit nichts zu tun haben zu wollen und abzutreten. Oder aber Jean-Claude Juncker bitten, ihn von allen Befugnissen zu entbinden, will sagen: keinen Erlass mehr unterzeichnen, auch keinen Ausführungserlass zum Euthanasiegesetz und auch keinen anderen Erlass, betreffe er nun die Sportförderung, die Jagd oder die Schülernormen.
Die jetzige Lösung ist einfach nur heuchlerisch. Henri verkündet das Gesetz, also ist er Teil des gesetzgeberischen Vorgangs, wenn auch nicht als Gesetzgeber, sondern als Exekutant. Gleichzeitig hat Henri sich die Sympathien derjenigen seiner Landsleute verscherzt, die das Gesetz befürworten. Keine Glanzleistung, Ihr Vorschlag, Herr Juncker!
Die belgische Variante
Da hatte es Wilfried Martens leichter, als Henris Onkel, König Baudouin, das Gesetz über den Schwangerschaftsabbruch nicht unterzeichnen wollte. Wilfried Martens und seine Regierung knüpften an den Präzedenzfall an, als
Baudouins Vater Leopold, im Brüsseler Stadtschloss unter Hausarrest stehend, handlungsunfähig war, unter der deutschen Besatzung. Und als sich dieser Zustand geändert hatte, war er halt wieder fähig zu regieren.
So einfach ging das im Land des René Magritte. Surrealistisch gewiss, aber zumindest intellektuell sauber im Vergleich zur holprigen Halbierung der großherzoglichen Befugnisse Henris.
Anmerkungen
Postskriptum: Heutzutage, nachdem in Belgien die Kritiker der Monarchie Oberwasser verspüren, wäre diese Formel, wäre Baudouin mit der Euthanasie konfrontiert gewesen, auch nicht mehr möglich.
Postskriptum II: Heutzutage, nachdem Albert Regierungsbildner Leterme mehrmals aus der Verlegenheit befreite, darf getrost die Frage gestellt werden: wer sollte denn dann die Regie bei der Regierungsbildung geführt haben, wenn nicht der Monarch?
Postskriptum III: Nach Baudouins Gewissensnot im Zusammenhang mit dem Gesetz über den Schwangerschaftsabbruch beugten sich auch in Belgien zahlreiche Staatsrechtler über die Frage: wie kann der König der Belgier Befugnisse abgeben, ohne unter seiner Krone ganz nackt da zu stehen? Mit Befugnissen, die geringer wären als die Könige sie in skandinavischen Ländern haben, auch diese waren den Dynastie-Kritikern noch zu viel. Ein schwieriges, wenn nicht unmögliches Unterfangen. Kein Zufall, dass es bisher noch keinen konkreten Gesetzentwurf mit Blick auf eine neue Festlegung der Rechte des Königs der Belgier gegeben hat.