Die Abstimmung im Plenum der Kammer ist ein gefährlicher Präzedenzfall. Zum ersten Mal machten alle flämischen Abgeordneten von ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit Gebrauch, um der frankophonen Minderheit im föderalen Parlament ihren Willen aufzuzwingen.
In der belgischen Geschichte hatte man bisher bei gemeinschaftspolitischen Differenzen immer eine Lösung gesucht und gefunden, bei der beide Seiten Zugeständnisse machten, aber mit der sie leben konnten. Das war der sprichwörtliche belgische Kompromiss. Er ist der unverzichtbare Pfeiler, auf den sich der belgische Staat stützt.
Ein Zusammenleben ungleicher, aber gleichberechtigter Gemeinschaften ist nur möglich, wenn die stärkste nicht von ihrer Macht Gebrauch macht. Die vorigen Politiker-Generationen haben allerdings bei ihren Staatsreformen an einen solchen Ernstfall gedacht und den Schwächeren im Grundgesetz Mittel gegeben, die sie wirkungsvoll zur Verteidigung ihrer Interessen gebrauchen können.
In dieser Krise wurde eines von ihnen, der Interessenkonflikt, schon zum zweiten Mal eingesetzt. Er blockiert die weitere parlamentarische Behandlung des Projekts für die Dauer von vier Monaten. Eine Zeitspanne, die im Sinne des Erfinders für Verhandlungen zwischen den streitenden Gemeinschaften genutzt werden sollte.
Die Regierungsparteien haben die Frist, die ihnen der erste Interessenkonflikt gab, nicht genutzt. Premierminister Leterme, der stets wiederholt, dass eine Lösung für BHV nur auf dem Verhandlungswege gefunden werden kann, ergriff keine Initiative und machte keinen Vorschlag. Die seiner Partei sehr nahe stehende Zeitung De Standaard schrieb über ihn: "Leterme, der Mann mit 800.000 Vorzugsstimmen und null Ideen".
Der sinkende Stern der CD&V trägt eine große Verantwortung für die verfahrene innenpolitische Situation. Hoffentlich steckt dahinter keine Taktik, sondern nur fehlende Autorität. Der Premierminister verkündete, dass er bis zum 15. Juli nicht nur eine Einigung über BHV, sondern auch konkrete Maßnahmen über die zweite Phase der Staatsreform und das sozialwirtschaftliche Programm seiner Regierung aushandeln will.
Doch nach der Abstimmung in der Kammer wollen die frankophonen Parteien nicht mehr über institutionelle Reformen verhandeln. Ihre Forderungen als Gegenleistung für ihre Zustimmung zur Spaltung des Brüsseler Wahlbezirks scheinen den Flamen inakzeptabel. Doch ohne Billigung der Frankophonen wird die Spaltung niemals möglich sein.
Die Aufteilung des belgischen Staates ist heute näher gerückt als die von Brüssel-Halle-Vilvoorde.