Morgen muss das Parlament noch der neuen Fünfer-Koalition das Vertrauen aussprechen. Und dann endet sozusagen offiziell die längste innenpolitische Krise in der belgischen Geschichte.
Doch jeder weiß: Mitte Juli soll das zweite Paket einer Staatsreform vorliegen. Wenn Flamen und Frankophone sich bis dahin nicht auf eine neue Umformung der Staatsstruktur verständigt haben, dann ist die nächste Krise schon vorprogrammiert.
Ich denke, man sollte - bei allen schlechten Vorzeichen - der Regierung Leterme doch eine Chance geben.
Es gibt tausend Gründe, die Regierung Leterme I zu belächeln, zu kritisieren, und ihr zudem ein kurzes Leben vorherzusagen.
Traurig war ja schon der ultimative Pöstchenschacher, der der neuen Equipe gleich den ersten Ehekrach bescherte. Wieder musste eine Nachtsitzung eingelegt werden, heraus kam die größte Regierungsmannschaft seit Jahren, 15 Minister und 7 Staatssekretäre. Schon das Regierungsprogramm war ja eine Schwergeburt. Und der Kompromiss, der nach der 20-stündigen Marathonsitzung vorlag, ist zudem nicht mehr und nicht weniger als eine 43-seitige Liste von guten Vorsätzen. Zahlen sucht man vergeblich.
Verdächtig wird es dann, wenn alle beteiligten Parteien behaupten, 95 Prozent ihres Programms sei in dem Regierungsabkommen wiederzufinden. Das kann nur ein Indiz dafür sein, dass es sich bei dem Programm der Regierung nicht um eine Synthese, sondern ein um Sammelsurium handelt. In Ermangelung von Schnittmengen hat man einfach alles in einen Topf geworfen und dreimal umgerührt. Jetzt ist für jeden was dabei.
Beides, der Pöstchenschacher und die schwammige, aufgeblähte Regierungserklärung zeigen ganz deutlich: Kompromissfähigkeit gehört nicht zu den Stärken der neuen Equipe. Stattdessen geht es zu wie auf dem Bazar, gewichtete Syntheselösungen gibt es nicht. Stattdessen wird die Ausgewogenheit rein arithmetisch definiert: drei blaue Prioritäten, drei orange Prioritäten, zwei rote - fertig ist das Regierungsprogramm. Das gleiche Prozedere galt bei der Vergabe der Ministerposten - bis am Ende eine 22-köpfige Equipe dabei heraus kam.
Das, was also zunächst nach einer Renaissance des viel gerühmten belgischen Kompromisses aussehen mag, könnte sich als ein Strohfeuer erweisen: Die Fünfer-Koalition fußt nämlich eben nicht auf einem kompakten Kompromiss, sondern auf der sandigen Summe der Standpunkte aller Beteiligten.
So weit, so gut. Doch wen wundert's, sollte der Beobachter fairerweise hinzufügen. Man darf in der Tat die Genesis dieser Regierung nicht vergessen. Zwar ist für das politische Klima in erster Linie die politische Klasse verantwortlich. Die innenpolitischen Spannungen gibt es aber nicht nur deshalb, weil die Politiker wohl Freude daran hätten - von einigen berufsmäßigen Bombenlegern einmal abgesehen, sondern weil es in diesem Land tatsächlich den Ruf nach einer Neuordnung des Staatsgefüges gibt. Wenn das auch vornehmlich für den Norden des Landes gilt, so darf man diese Forderung nach einer neuen Staatsreform dennoch nicht einfach ignorieren. Und hier sind die Interessen nun einmal konträr, je nach Seite der Sprachengrenze.
Die Art und Weise, wie die politische Klasse mit diesem Problem umgegangen ist, ließ zwar tatsächlich zuweilen zu wünschen übrig. Das - sagen wir mal - 'komplizierte' Wahlergebnis, das Getrommel der Presse im Norden wie im Süden des Landes, und natürlich die bevorstehenden Regionalwahlen in etwas mehr als einem Jahr können da aber zumindest einiges erklären. Sprich: Die Parteien waren bis zu einem gewissen Grad Gefangene einer Konstellation, was ja immer noch nicht heißt, dass man damit eine Krise schönredet.
Nach neun Monaten des Grabenkrieges, der ja keinem wirklich weiterhalf, musste diese Spirale aber erstmal durchbrochen werden. Übertrieben vernichtende Kritik an der neuen Regierung ist denn auch jetzt nicht angebracht. So sehr diese Kritik inhaltlich gesehen auch berechtigt wäre, sie wäre kontraproduktiv.
In den zurückliegenden neun Monaten ist nämlich zu viel Porzellan zerdeppert worden. Darunter hat vor allem das Vertrauen gelitten, das gerade in Belgien mit seinen zwei konkurrierenden Sprachgruppen absolut unabdingbar ist. Mehr, als erstmal eine Regierung auf die Beine zu stellen, war zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht drin. Diese Regierung steht jetzt. Und deren erste Aufgabe wird es nun sein, das verlorene Vertrauen zurückzugewinnen, das gegenseitige Vertrauen, aber auch das der Bürger in die Politik.
Das geht nur scheibchenweise. Die Scherben können nur Schritt für Schritt wieder zusammengeklebt werden: zunächst die Übergangsregierung, dann der Haushalt und das erste Paket der Staatsreform, und jetzt ein Regierungsabkommen. Hier ging es nie wirklich um Inhalte, sondern ums Prinzip, um die Symbolik. Dass die Uhr da weiter tickt, dass die wirklich heiklen Probleme ja nur verschoben wurden, dass jetzt mit Brüssel-Halle-Vilvoorde und mit dem zweiten Paket der Staatsreform die wirklich explosiven Probleme anstehen, und dass das der Regierung den Kopf kosten könnte, das wissen die Beteiligten selbst am besten.
Doch sie scheinen die Herausforderung annehmen zu wollen: die Regierung setzt sich ohne Zweifel aus der ersten Garde zusammen. Alle Parteien haben ihre Schwergewichte in die Arena geschickt, darunter allein drei Parteipräsidenten, Didier Reynders, Jo Vandeurzen und auch sein Interimsnachfolger Etienne Schouppe, sowie keine geringere als Madame "Non", Joëlle Milquet. Hier ist also keine Marionetten-Equipe am Werk.
Nur, weil es jetzt eine Regierung gibt, hat sich die unglückliche Konstellation natürlich nicht verändert. Und doch war die Krise nicht unnütz: Die Frankophonen wissen jetzt, dass die Flamen es ernst meinen mit der Staatsreform. Und die Flamen wissen jetzt, dass es nicht reicht, etwas zu fordern, um es gleich zu bekommen.
Beide Seiten wissen jetzt, dass sie nicht umhin können, miteinander zu reden, aufeinander einzugehen. Deshalb sollte, nein: muss man dieser Regierung eine Chance geben. Allein die Tatsache, dass die Regierung überhaupt besteht, ist ein Schritt in die richtige Richtig, nicht mehr, aber auch nicht weniger.