Yves Leterme, der Spitzenpolitiker der CD&V, der bei den Wahlen 800.000 Stimmen erhielt, hatte Flandern als Ministerpräsident mit einer guten Regierungsarbeit überzeugt. Doch auf nationaler Ebene kann er seine Ambitionen nicht verwirklichen. Leterme hat zum zweiten Mal als Regierungsbildner versagt. Es hat sich in den fünf Monaten nach den Wahlen deutlich gezeigt, dass der Mann, den man in Flandern auch als Notar bezeichnete, keine Führungsqualitäten und kein Einfühlungsvermögen besitzt. Er hat in dieser Zeit deutlich seine Schwächen offenbart: Er ist unfähig zum Kompromiss. Er ist seiner Partei hörig und kann sie nicht beeinflussen. In den delikaten gemeinschaftspolitischen Fragen ist er nicht Schiedsrichter, sondern Akteur.
Er will Premierminister werden, nicht um dem Land, sondern um Flandern zu dienen. Er ist ungeduldig und hat die ihm vom Staatsoberhaupt zur Seite gestellten erfahrenen Politiker Dehaene und Van Rompuy verdrängt, ehe sie ihre Mission erfolgreich beenden konnten. Er hat kein Verhandlungstalent, denn selbst bei den meisten bisher angekündigten Einigungen zeigt näheres Hinsehen, dass die umstrittenen Punkte nicht gelöst, sondern vor sich her geschoben wurden, um später behandelt zu werden. Über das Konflikt-Thema BHV hat er niemals gründlich verhandelt, obschon die Frist vor der Abstimmung mehrmals verlängert wurde.
Unter dem Druck der CD&V, für die niemand anders als ihr Wahlsieger Leterme als Regierungschef in Frage kommt, hat König Albert ihm eine dritte Chance gegeben und seinen Auftrag überraschend schnell verlängert. Doch das war mit einer Ohrfeige verbunden. Das Tätigkeitsfeld des Regierungsbildners wurde amputiert. Er soll über die künftige Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik verhandeln, doch sein Steckenpferd - die Staatsreform - muss er einem aus Vertretern aller Parteien zusammengesetzten Rat der Weisen unter der Leitung der beiden Parlamentspräsidenten De Decker und Van Rompuy überlassen. Der König will eine ausgewogene Staatsreform, die den Föderalstaat stärkt. Kaum jemand erwartet, dass dieses Ziel vor den Regionalwahlen im Jahre 2009 erreicht wird. Dadurch wurde die BHV-Abstimmung für die Flamen zum Pyrrhus-Sieg.
Sie hat aber noch andere Folgen. Das viel gepriesene belgische Modell für eine friedfertige Entwicklung zum Föderalstaat ist schwer beschädigt. Viele Bürger haben Angst, dass eine Fernseh-Fiktion über die Ausrufung der flämischen Unabhängigkeit sich verwirklichen könnte. Die französischsprachigen Parteien befürchten einen Präzedenzfall: Die Flamen könnten geneigt sein, auch andere umstrittene Gesetzentwürfe mit ihrer Mehrheit zu verabschieden und den Frankophonen ihren Willen aufzuzwingen. Das wäre theoretisch sogar für jene institutionellen Reformen möglich, für die keine Zwei-Drittel-Mehrheit erforderlich ist, die nur die Änderung der Texte des Grundgesetzes schützt.
Die Idee, die gemeinschaftspolitischen Themen einem Rat der Weisen anzuvertrauen, hat auch noch den Haken, dass die meisten sozialen und wirtschaftlichen Programmpunkte von den Flamen mit Regionalisierungsforderungen verbunden werden. Man kann beides nicht sauber von einander trennen. Ganz davon abgesehen, dass das Kartell CD&V/N-VA inzwischen seine Forderung erneuert hat, nur an Regierungsgesprächen teilzunehmen, wenn die frankophonen Parteien ihnen zuvor Garantien für die Durchführung einer großen Staatsreform geben. Orange-blau steht vor einer neuen Zerreißprobe.