Bart De Wever ist -wie auch Karel De Gucht betonte- ein Spitzenpolitiker. Die Tatsache, dass De Wever derzeit mit dem Kartellpartner CD&V am orange-blauen Verhandlungstisch sitzt, mag dafür sprechen. Ein Spitzenpolitiker, der diesen Namen verdient, gibt aber nicht gefährliche Halbwahrheiten zum Besten. Der flirtet auch nicht eindeutig zweideutig mit antisemitischem, neo-nazistischen Gedankengut. Noch dazu im Zusammenhang mit dem Jahrtausendverbrechen, der Shoah, dem Holocaust. Ein solcher, vermeintlicher Spitzenpolitiker gehört, mit Verlaub, zurückgetreten.
Schon der Zeitpunkt von De Wevers großem Auftritt im Schmierentheater zeugt von absoluter Respektlosigkeit. Ausgerechnet beim großen "Mea Culpa" des Antwerpener Bürgermeisters Patrick Janssens fühlte De Wever sich dazu berufen, Fundamentalkritik und noch dazu eine Neuinterpretation der Geschichte vorzunehmen. Patrick Janssens hatte sich bei der jüdischen Gemeinschaft entschuldigt, um Verzeihung gebeten für das Verhalten gewisser Verantwortlicher der Verwaltung und der Polizei der Scheldestadt im Zweiten Weltkrieg. Weil die Verwaltung und die Polizei dem deutschen Besatzer willig und wissentlich zugearbeitet hatten bei der Verfolgung der Antwerpener Juden. Für De Wever war diese Entschuldigung ein "Fauxpas": zu spät, zu pauschal, schlicht und ergreifend "gratis". Und nicht nur das: zu allem Überfluss werde diese Entschuldigung politisch instrumentalisiert, um den Vlaams Belang zu bekämpfen.
"Besser spät als nie", möchte man dem Herrn De Wever antworten. Und wenn man damit den Vlaams Belang in die Defensive drängt, dann ist das durchaus ein netter Nebeneffekt; das ändert aber nichts am Symbolwert dieser Entschuldigung für die Überlebenden, die Angehörigen der Opfer des Holocausts und die jüdische Gemeinschaft insgesamt. Diese Entschuldigung dann allen Ernstes als "gratis" und damit unnötig zu bezeichnen, lässt Zweifel an der Gesinnung des Herrn de Wever keimen.
Und das spätestens, wenn man die inhaltlichen Beanstandungen des Bart De Wever an der Entschuldigung von Patrick Janssens liest: Es sei doch nicht die Stadt Antwerpen gewesen, die die Judenverfolgung organisiert habe; vielmehr sei es eine von den Nazis besetzte Stadt gewesen. Und die Verantwortlichen hätten in diesen schwierigen Zeiten schwierige Entscheidungen treffen müssen. Und jetzt würde gegen diese Menschen noch einmal nachgetreten, beklagt Bart De Wever.
Dazu muss man wissen: Von Hause aus ist dieser Bart De Wever Historiker. Sein Spezialgebiet: die Geschichte der flämischen Bewegung. Und bei seinen Forschungen dürfte ihm wohl nicht entgangen sein, dass ein Teil eben dieser flämischen Bewegung nach 1933 in die extrem rechte Ecke gerückt ist. Das gilt zwar auch für andere Organisationen -man denke nur an die vor allem in der Wallonie verbreiteten Rexisten. Fest steht aber auch, dass die flämisch-nationale Bewegung nach dem Krieg über Jahrzehnte hinweg nicht einsehen wollte, dass man das Verhalten gewisser ihrer Mitglieder in den dunklen Jahren als "Kollaboration" bezeichnete, bezeichnen musste.
In den Folgejahren stand neben den Forderungen nach einem autonomen Flandern die Amnestie-Frage im Mittelpunkt des politischen Kampfes der Flämischen Nationalisten. Politisches Sprachrohr dieser Amnestie-Bewegung war die inzwischen verblichene Volksunie. Aus besagter Volksunie ist bekanntlich die N-VA von Bart de Wever hervorgegangen. Anders gesagt: der Mann bleibt in der Tradition seiner politischen Altvorderen, wenn er versucht, die Kollaborateure von damals als Opfer des Systems darzustellen.
Dabei müsste er es besser wissen. Eigentlicher Anlass für die Entschuldigung von Patrick Janssens war nämlich eine neue Studie, die alle Zweifel vom Tisch fegt. In "La Belgique docile", was soviel heißt wie "Williges" oder "Gefügiges Belgien", wird der wissenschaftliche Beweis erbracht, dass die Belgischen Verwaltungen -entgegen der bis dato kursierenden Legenden- doch nicht ausschließlich durch passiven Widerstand geglänzt haben. Zumindest in einer ersten Phase wurde den deutschen Besatzern vielerorts willig zugearbeitet. Und das gilt tatsächlich in erster Linie für Antwerpen. Im August 1942 lieferten die Antwerpener Behörden den Nazis 1.250 Juden aus, statt der beantragten 1.000. Vorauseilenden Gehorsam nennt man so etwas. Resultat: 60 Prozent der Antwerpener Juden wurden deportiert, gegen 30 Prozent in Brüssel. Das sagt doch alles!
Zwar bildete Antwerpen nicht die einzige Ausnahme, zwar gab es auch in der Scheldestadt Widerständler, wie auch De Wever nachdrücklich betont. Aber wird dadurch eine Entschuldigung, die auf der Grundlage historischer Fakten erfolgt, mit einem Mal unnötig, "gratis"?
Doch als wäre De Wever damit nicht schon weit genug gegangen, bringt er dann auch noch das alte Holzhammer-Argument von der Ausschwitzkeule: die Juden und Israel missbrauchten den Holocaust. Damit vernebelten sie ihre jetzige Politik: man könne doch nicht die Augen verschließen vor dem, was da in den besetzten Gebieten passiere, sagt De Wever.
Das sind zwei Paar Schuhe! Der Holocaust hat nichts mit dem Nahost-Konflikt zu tun! Auch wenn man den Eindruck hat, dass Israel sich im Konflikt mit den Palästinensern nicht immer korrekt verhält, relativiert das doch in keiner Weise den Tod von 6 Millionen Juden! Hier bedient sich De Wever eindeutig eines Argumentationsmusters, das auch in Neo-Nazi-Kreisen immer wieder vorgebracht wird.
Er sei falsch verstanden, aus dem Kontext gerissen worden, verlautete danach aus seinem Umfeld. Ach ja! Im Zweifel ist ja immer der Überbringer der Nachricht der einzig wahre Schuldige. Andere sahen in dem ganzen Getöse ein Komplott: gerade auf frankophoner Seite ergreife man jede Gelegenheit beim Schopf, um den Herrn De Wever an den Pranger zu stellen, hieß es da. Auch das ist unverschämt: waren diese Ausführungen -für sich genommen- nicht schon unannehmbar genug? Musste man diese Darlegungen überhaupt noch böswillig auslegen? Davon abgesehen: jemand, der noch Anfang Mai auf der Beerdigung des Vlaams Blok- Gründers Karel Dillen war, jemand, der sich zusammen mit dem französischen Rechtsextremisten-Führer Jean-Marie Le Pen hat ablichten lassen, der darf sich doch wundern, wenn seine Aussagen mit seinem Image abgeglichen werden.
Schließlich hat er sich entschuldigt, der Herr De Wever. Nicht ganz freiwillig, vielleicht, denn die orange-blauen Partner hatten ihn ganz gehörig unter Druck gesetzt. Entschuldigt hat er sich dennoch. Doch reicht das? Wenn einer einen Stein in ein Schaufenster wirft, dann mutet ein nachträglich und noch dazu unter Druck ausgesprochenes "Sorry!" fast schon "gratis" an.
Ein Vertreter der jüdischen Gemeinschaft brachte es auf den Punkt: Verzeihen, ja! Vergessen: so schnell nicht...