Zwei Monate sind seit der Wahl vergangen. Das Problem ist nicht, dass Belgien nach 2 Monaten noch keine Regierung hat; in einem so komplexen Land kann das vorkommen. ABER: es ist wohl noch nie vorgekommen, dass in 2 Monaten so wenig Fortschritte erzielt wurden. Um nicht zu sagen: gar keine!
Und manchmal kann einem Angst und Bange werden, wenn man mit ansehen muss, wie sich die Parteien zerfetzen, die eigentlich eine Regierungsmehrheit bilden sollen. Was sich da am Gatter von Schloss Val Duchesse abspielt, das kann man getrost als allabendliche Massenschlägerei bezeichnen. Und angesichts dieser unverändert grimmigen Stimmung stellt sich auch 2 Monate nach der Wahl immer noch eine Frage, die längst beantwortet sein müsste: WOLLEN die orange-blauen Verhandlungspartner überhaupt eine orange-blaue Koalition?
Erklärungsmodelle gibt es zur Genüge: die Konstellation war so nicht erwartet worden; Didier Reynders würde wohl nie mit Joëlle Milquet in Urlaub fahren; Joëlle Milquet wiederum scheint immer noch der PS nachzutrauern. Vor die Gretchenfrage gestellt, hat sie sich gerade erst klar zu einer orange-blauen Koalition bekannt, zum ersten Mal. Blau und Orange haben seit 20 Jahren nicht mehr an einem föderalen Verhandlungstisch gesessen; das merkt man.
Und doch: Diese orange-blaue Konstellation wurde eigentlich vom Wähler so gewollt; sie ist eine logische Folge des Votums vom 10. Juni. So weit, so gut. Das Problem ist dennoch, dass diese Partner eigentlich kein gemeinsames gesellschafts- und wirtschaftspolitisches Projekt haben. Vor 8 Jahren, als Sozialisten und Liberale zusammen mit den Grünen ans Ruder kamen, verband sie ein zentrales Anliegen: man wollte den CVP-Staat sprengen, die verkrusteten Strukturen aufbrechen. Das allein reichte, um das gemeinschaftspolitische Damoklesschwert für einen Moment lang zu vergessen.
Jetzt ist dieser böse Geist zurückgekehrt, und der poltert umso lauter, als gerade beim flämischen Wahlsieger CD&V - N-VA eben einzig und alleine die Gemeinschaftspolitik auf dem Wunschzettel stand. Und die Christdemokraten haben sich im Wahlkampf sehr weit aus dem gemeinschaftspolitischen Fenster herausgelehnt; das rächt sich jetzt.
Was nun? fragt man sich also schon seit 2 Monaten. Die Standpunkte könnten konträrer nicht sein: die einen wollen eine möglichst tiefgreifende Neuordnung des Staatsgefüges, die anderen gar keine. Und statt aufeinander zuzugehen, schaufelt jeder für sich seinen Schützengraben nur noch immer tiefer.
Einer könnte, nein, er MÜSSTE hier energisch, zielsicher und entschlossen vorangehen: Regierungsbildner Yves Leterme. Kaum ein Politiker vor ihm ist derartig vom Wähler plebiszitiert worden. Unglaubliche 800.000 Vorzugsstimmen: das ist ein eindeutiges Mandat.
Doch Leterme eiert herum. Er schafft es nicht, Ordnung in die Reihen zu bekommen. Die Geburtstagsfeier von Didier Reynders vermochte er noch zu verbieten; nicht aber das Breittreten von allem, was hinter den Mauern von Val Duchesse wohl gesagt und nicht gesagt wurde. Auf diese Weise kann kein großer Kompromiss zustande kommen, wenn jedes kleinste Detail eines mit Sicherheit sehr komplexen Gebildes gleich an die Öffentlichkeit kommt. Letermes Versuch, vor der Presse zu fliehen, hat sich als Rohrkrepierer erster Kajüte erwiesen. Die Kommentare, auch aus den Reihen der Verhandlungspartner: kindisch, grotesk, surrealistisch. Die jüngste Note des Regierungsbildners: ein ungeordnetes Sammelsurium, weit entfernt von einer wirklichen Arbeitsgrundlage. Letermes Methode? Gibt es die überhaupt? fragt der eine. Der andere sagt, er schwanke noch zwischen den Adjektiven kreativ und chaotisch.
Der einstige Überflieger, Wonderboy, Vorzeigepolitiker: er erscheint überfordert.
"Goed Bestuur", so lautete seine Parole: wir wollen die Geschicke des Landes mit Vernunft und Weitsicht lenken, im Gegensatz zu der bislang regierenden rot-blauen "Koalition wider Natur", die nie an einem Strang gezogen hat. Nun, von besagtem "Goed Bestuur" ist bislang nichts zu sehen - im Gegenteil: orange-blau stellt das vermeintliche Chaos der Vorgänger noch in den Schatten. Und Letermes Stern verblasst. Auch in Flandern. Seine Förderer sahen in dem Ganzen bis vor kurzem noch eine gewiefte Taktik; jetzt werden auch sie von Zweifeln beschlichen. Presseorgane, die den Politiker Leterme fast schon gemacht haben, die ihn auf Händen trugen, die ihn zum Hoffnungsträger aller Flamen stilisierten, sie wenden sich ab.
Leterme wird zum Opfer seiner 800.000 Vorzugsstimmen: er weiß, das er seine Wähler nicht enttäuschen darf. Und weil er sie nicht enttäuschen will, ist er gehemmt. Und damit enttäuscht er sie schon. 100.000 Stimmen hat er laut Umfragen schon eingebüßt. Außerdem: keiner am Verhandlungstisch gönnt ihm seine Vorzugsstimmen. Und so mancher macht sich ein Spässchen daraus, den Mann zu entzaubern.
Und auch in seiner eigenen Partei schwindet die Unterstützung für den Mann, der am Abend des 10. Juni noch inmitten eines Meers von flämischen Fahnen wie ein Messias bejubelt wurde. Leterme müsste es eigentlich am besten wissen: gerade seine Partei hat die hohe Kunst des Königsmordes veredelt. Ausnahmslos alle alten CD&V-Granden wurden von der eigenen Partei kaltgestellt. Und auch jetzt werden bei den Christdemokraten wieder die Messer gewetzt. Wenn Leterme nicht aufpasst, dann landet er schon bald in der Ahnengalerie, und zwar als der erste Beinahe-Premierminister der CD&V.
Doch worauf läuft das alles hinaus? Es könnte schon sehr bald eine Krise geben. Eine handfeste. Eine, die man dann als "Staatskrise" bezeichnen wird. Eine Staatskrise, in deren Verlauf dann unweigerlich auch die Einheit Belgiens in Frage gestellt würde.
Dazu nur so viel: wenn es so einfach wäre, das Land zu spalten, dann wäre das längst passiert; es ist jedenfalls nicht einfacher, den Belgischen Staat zu sprengen, als eine neue Regierung auf die Beine zu stellen.
Um eine solche Staatskrise zu verhindern oder gegebenenfalls zu lösen, müssen vielleicht erst noch Kartelle auseinanderfliegen, Köpfe rollen, Parteipräsidenten zurücktreten oder zusätzliche Partner mit ins Boot gehievt werden.
Zwei Monate nach der Wahl sind wir immer noch beim Präludium. Der Hauptakt kommt noch. Und er verspricht, äußerst spannend zu werden.