Es fällt nicht immer leicht, für eine strikte Anwendung des Gesetzes zu plädieren. Wer bleibt angesichts von Kindertränen ungerührt? Wer kann schon einer 11-Jährigen ins Gesicht sagen, dass sie hier nicht bleiben kann und zurück in ihr Heimatland muss. Einem Land, zu dem sie kaum, wenn nicht keinerlei Bindung mehr hat. Wer wünscht sich nicht eine Welt, in der jedes Kind unter würdigen Bedingungen aufwachsen kann? Sind wir uns eigentlich immer darüber im Klaren, dass unsere Kinder gemessen an anderen Regionen dieser Welt im Paradies geboren werden? Und können wir den Kindern, die dieses Glück nicht hatten, nicht gönnen, an diesem Paradies teilzuhaben?
Das Schicksal der 11-Jährigen Angelica hat das Land bewegt; was sich da am Montag auf dem Flugfeld des Brüsseler Airports abgespielt hat, ist ein Drama, egal von welchem Standpunkt aus man die Angelegenheit betrachtet. Das, was Angelica und ihrer Mutter widerfahren sollte, gönnt man niemandem.
Aber: es ist ein bisschen zu einfach, hier allein die zuständigen Behörden an den Pranger zu stellen.
Eins muss dabei allerdings von vornherein klar sein: ein Staat darf niemanden mit physischer Gewalt in ein Flugzeug prügeln. Wenn dieser Staat allerdings beteuert, dass das nicht geschehen ist, und das die Gewalt in einer ersten Phase vom Opfer ausging, dann darf man dies auch nicht reflexartig als Lüge verwerfen; eine Untersuchung muss klären, was am Montag genau vorgefallen ist, als man nach dem Abschiebeversuch vor allem bei Ana Cajamarca Verletzungen feststellte. Eine Entgleisung eines Sicherheitsbeamten kann man nie hundertprozentig ausschließen. Ebenso wenig darf man aber auch eine bewusste Provokation von Ana Cajamarca nicht gleich als zynische, böswillige Unterstellung abtun. "Der Zweck heiligt die Mittel", diese alte, wenn auch gefährliche Maxime kann im vorliegenden Fall für beide Seiten gelten.
Doch abgesehen davon: ist es überhaupt moralisch vertretbar, eine 11-Jährige auszuweisen, ein Mädchen zu entwurzeln, das hier zur Schule ging, integriert war. Nein, prinzipiell natürlich nicht! Nur, so abgedroschen das klingen mag, aber "Gesetz ist Gesetz". Wenn man Ausnahmen zulässt, dann ist das die Vorstufe zu einem Willkürregime. Und die Tatsache, dass gerade der Fall Angelica ein solches Aufsehen erregt hat, hat auch viel mit… Angelica zu tun. Jährlich werden ohne großes Aufsehen viele andere Illegale ausgewiesen. Das macht das ganze nicht angenehmer; man wird aber den Eindruck nicht los, dass die 11-jährige Ecuadorianerin hier vermarktet wurde; von wem, das sei dahingestellt. Ihre Fürsprecher müssen sich allerdings vielleicht irgendwann einmal vorwerfen lassen, einem Kind falsche Hoffnungen gemacht zu haben.
Ein Staat, der in der vorliegenden Angelegenheit beide Augen zugedrückt hätte, der müsste sich jedenfalls die Frage gefallen lassen: Warum bei Angelica, und nicht beispielsweise im Fall der kosovo-albanischen Familie Isenaij aus Neundorf, die im vergangenen Jahr das Land verlassen musste. Im Gegensatz zu Angelica's Mutter hatten die Isenaijs zumindest einen Asylantrag gestellt. Ana Cajamarca hat es offensichtlich immer vorgezogen, mit Angelica außerhalb der Prozeduren und damit in der Illegalität zu bleiben. Diese Illegalität darf nicht in irgendeiner Weise belohnt werden; es wäre eine krasse Ungerechtigkeit denen gegenüber, die sich an die Regeln gehalten haben und doch das Land verlassen mussten.
Verschiedene Menschenrechtsgruppen haben hier eine vermeintlich einfache Antwort parat: dann lockern wir eben das Gesetz! Dazu bedarf es allerdings einer Mehrheit im Parlament. Und man mag es bedauern: eine systematischere Regularisierung von Illegalen, die vielleicht letztlich auf eine "Politik der offenen Grenzen" hinauslaufen würde, das ist derzeit schlicht und einfach nicht mehrheitsfähig. Das macht eine härte Haltung nicht richtiger oder vertretbarer; wir leben aber nun einmal in einer Demokratie.
Das heißt aber auch, dass sich diese Demokratie an internationale Regeln zu halten hat: ein Staat, der -gleich wie er es auch zu erklären versucht- Minderjährige hinter Gitterstäben festhält, beschmutzt die Menschenrechte.
Außerdem: Wenn schon eine spürbare Lockerung der Asylgesetzgebung eher unwahrscheinlich erscheint, so muss die Rechtslage aber zumindest klar sein. Die Politik darf nicht einer Behörde systematisch den Schwarzen Peter zuschanzen, wenn sie den Beamten keine klaren Richtlinien vorgibt. Zugleich muss es immer möglich sein, Fälle individuell zu prüfen; ein Gesetz kann nicht alle Facetten eines Lebens vorsehen; die Verwaltung darf keine Maschine sein, sondern muss ein menschliches Antlitz haben.
Ausweisungen wird es dennoch immer geben. Belgien kann nicht im Alleingang die Welt verbessern. Hier ist klar und deutlich die EU gefragt. Wobei so viel auch klar sein muss: einmauern kann sich eben diese EU auf Dauer nicht; allein schon aus wirtschaftlichen Gründen wird Europa in absehbarer Zeit Einwanderung brauchen. Und damit brauchen wir auch eine kohärente, gemeinsame Einwanderungspolitik, die sich also nicht auf die Grenzsicherung und das "Herausschmeißen" von Illegalen beschränkt.
Der Fall Angelica, hat bei aller Tragik und bei allen offenen Fragen, zumindest eins bewirkt: er hat die Thematik noch einmal ins kollektive Gedächtnis zurückgerufen und den Dramen, die sich alltäglich und unter Ausschluss der Öffentlichkeit abspielen, ein Gesicht gegeben. Ob das Angelica letztlich hilft, ob dieses Gesicht dafür in Belgien bleiben darf, das muss der Staat entscheiden. Dabei sollte er sich an seine Gesetze halten, diese aber so menschlich wie möglich umsetzen.