„O Tempora, O Mores“, sagte einst der berühmte römische Redner Cicero, der offensichtlich die Welt nicht mehr verstand. O Zeiten, O Sitten, oder frei übersetzt: „Früher war alles besser“. Dieser Satz stammt aus dem 1ten Jahrhundert vor Christus. Schon damals also war es so, dass die Altvorderen die Nachgeborenen nicht mehr so recht verstanden. Auch in jüngerer Vergangenheit hat man eine um die andere Generation gebrandmarkt: erst die 68er, dann die Punks, dann die Null-Bock-Generation, um nur einige zu nennen: diese ach so „anderen“ Jugendlichen waren jeweils der Inbegriff für den bevorstehenden Untergang des Abendlandes.
Jetzt sind es mitunter eben dieselben -inzwischen erwachsen gewordenen- Menschen, die die Jugend ihrer Zeit an den Pranger stellen.
Die Psycho-Analyse der jeweils zeitgenössischen Jugend muss nicht grundfalsch sein; sie ist aber auch nicht frei von jenem Vorurteil, das schon Cicero wohl zu seinem berühmten Ausspruch bewog.
Die Jugend ist immer ein Produkt ihrer Zeit, ist immer irgendwie ein Spiegelbild ihrer Umwelt: technische und gesellschaftliche Entwicklungen werden gerade von jungen Menschen aufgesogen und mit jugendlich-unschuldigem Elan mitunter eben auch exzessiv genutzt und gelebt.
Zu glauben, die Jugend wäre heutzutage brutaler, gewaltbereiter, verrohter, verwöhnter oder gleich alles zugleich, ist ein Pauschalurteil. Derzeit gibt es keinerlei Anzeichen dafür, dass die Gewalt unter Jugendlichen zunimmt. Eher das Gegenteil scheint zu stimmen.
Zugegeben: In den letzten 12 Monaten kann da durchaus ein anderer Eindruck entstanden sein. Mitten im Brüsseler Hauptbahnhof wird der 17-jährige Joe Van Holsbeek von Altersgenossen wegen eines mp3-Players kaltblütig erstochen. In Antwerpen schießt ein 18-jähriger Skinhead will um sich und tötet zwei Menschen. In Dinant geht ein jugendlicher Schüler mit einem Messer auf seinen Schuldirektor los und sticht 7 Mal auf ihn ein; der Pädagoge überlebt schwer verletzt. Und vor einer Woche wird der 18-jährige Bart Bonroy in Ostende von einem Gleichaltrigen auf offener Straße ebenfalls mit einem Messer tödlich verletzt. Hintergrund war hier, dass das Opfer seinem Mörder eine Zigarette verweigert hatte.
Angesichts dieser -zweifellos unvollständigen- Liste von Gewalttaten, die von Jugendlichen verübt wurden, kann man nicht - man MUSS sich Fragen stellen.
Es sollten nur die richtigen Fragen sein. Falsch ist, wenn man nach vordergründigen Ursachen sucht, und auf dieser -und nur dieser- Grundlage Schlussfolgerungen zieht. So, wie etwa der MR-Bürgermeister von Dinant, Richard Fournaux, der im Zusammenhang mit dem Angriff auf den Direktor der örtlichen Schule sinngemäß erklärte, der Täter käme ja schließlich vom Balkan; und diese Menschen seien im allgemeinen aggressiver. So auch, wenn man einfach mal so zum Kampf gegen gewalt-verherrlichende Computerspiele aufruft, nur weil ein jugendlicher Gewalttäter zufälligerweise ein Fan solcher Software war.
Ziel solcher Erklärungsversuche und der entsprechenden Gegenmaßnahmen ist es doch nur, scheinbar einfache Lösungen zu präsentieren, um der Bevölkerung zu signalisieren, dass man sich des Problems annimmt.
Und was ist, wenn es -wie im Fall von Ostende- scheinbar kein auffälliges Verhalten gibt, dass man im Keim ersticken könnte? Was ist, wenn der Täter nicht gerade mal vom Balkan stammt oder keine gewalt-verherrlichenden Spiele spielt? Dann will man plötzlich das Waffengesetz weiter verschärfen und zur Fahndung nach Messern aller Art aufrufen.
Statt sich einfach noch einmal einer Tatsache bewusst zu werden: absolute Sicherheit gibt es nicht! Besagter Schuldirektor aus Dinant, der sich inzwischen glücklicherweise auf dem Weg der Besserung befindet, hat es gegenüber der Tageszeitung „Vers l’Avenir“ so formuliert: in den letzten 11 Jahren haben wir uns mit unserer Schule auf einer Autobahn befunden, wo sich Schüler wie Lehrer in eine Richtung bewegten, die hin zu mehr Menschlichkeit, hin zu mehr Respekt dem anderen gegenüber, gleich welcher Abstammung. Und ich -sagt der Schuldirektor- ich habe da einen Zusammenstoß mit einem Geisterfahrer gehabt.
Das sagt jemand, der sich gerade von 7 Messerstichen erholt. Dieser Mann spricht von unserer „schönen Jugend“, wobei es da eben schwarze Schafe, Geisterfahrer, gebe und immer geben werde. Das ist ein humanistisches Manifest.
In keiner Weise kann das alles die Gewaltakte relativieren; in keiner Weise macht das den Tod junger Menschen bzw. die Morde anderer Jugendlicher erträglicher. Joe Van Holsbeek, Luna, Oulematou, Bart Bonroy: sie durften nicht sterben. Ihr Tod ist für ihre Familie, Freunde, Angehörige eine schreckliche Tragödie.
Nur leider ist es so: keine Sicherheitsmaßnahme dieser Welt kann so etwas verhindern, so schwer diese Tatsache auch für viele in unserer sicherheitsverliebten Welt zu ertragen ist. Risiken kann man allenfalls schmälern, nie beseitigen. Und es wird niemandem helfen, wenn Lehrer irgendwann durch Polizisten ersetzt werden, wenn aus Schulen Festungen werden, wenn Jugendliche als von ihrer Umwelt umprogrammierte potentielle Mordmaschinen angesehen werden, und nicht als das, was sie sind: junge Menschen!
Gewalt unter Jugendlichen ? Ein Kommentar
Morgen wird Bart Bonroy zu Grabe getragen, jener 18-jährige Jugendliche, der von einem Gleichaltrigen auf offener Straße mit einem Messer niedergestochen wurde und der wenig später seinen schweren Verletzungen erlag. Am Sonntag soll ein neuer „Stiller Marsch“ zum Gedenken an den jungen Mann stattfinden. Wie schon der Mord an Joe Van Holsbeek vor 10 Monaten hat auch dieser Fall hat wieder landesweit Bestürzung ausgelöst. Zugleich wurde wieder der Ruf nach einer Verschärfung der Waffengesetzgebung laut. Die Problematik „Gewalt unter Jugendlichen“ ist zum politischen Reizthema geworden. Doch sollte man sich hier - bei allem Mitgefühl - vor Überreaktionen hüten, meint Roger Pint in seinem Kommentar...