Es hatte doch tatsächlich kurz danach ausgesehen, als könne der X-Man, wie Xavier Malisse in Anlehnung an die Mutanten in einem Hollywood-Streifens genannt wird, seinem heldenhaften Spitznamen endlich gerecht werden. „Pustekuchen!“, weiß der belgische Tennis-Fan schon nach den ersten Ballwechseln der Australian Open, denn Malisse hat sich sang- und klanglos aus der Einzelkonkurrenz verabschiedet. Nach dem Höhenflug zu Jahresbeginn, als er das Turnier im indischen Chennai gewann und dabei unter anderem den Spanier Nadal besiegte, ist Malisse schon wieder gelandet - und das denkbar unsanft. In vier Sätzen scheiterte der 26-jährige aus Kortrijk am Franzosen Arnaud Clément, der aktuellen Nummer 44 der ATP-Wertung.
Klar, Clément hat es bei den Australian Open schonmal bis ins Finale geschafft und ist sicher mehr als nur ein Sparringspartner, doch so einen hätte Malisse nach den Eindrücken der letzten Wochen eigentlich locker drauf haben müssen. Unabhängig davon wäre dieses Erstrunden-Aus bei den Australian Open nur halb so schlimm, wenn es nicht Sinnbild einer ganzen Karriere wäre, die für Malisse zwar einige Achtungserfolge bereit hielt, unter dem Strich aber - zumindest bislang - als unbefriedigend, ja gar enttäuschend bewertet werden muss. Denn Malisse ist im belgischen Herren-Tennis nach Meinung von Experten das größte Talent aller Zeiten.
Auf diesem genetisch gelegten Fundament hat er allerdings bisher keinen Prunkpalast, sondern allenfalls ein halbfertiges Reihenhaus errichtet. Und das schlampige Genie wirkt dabei nicht mal besonders sympathisch. Malisse ist nämlich so etwas wie die belgische Antwort auf John McEnroe. Der US-Amerikaner wird zwar im Laufe seiner aktiven Zeit einige Schläger mehr zertrümmert haben, aber Malisse ist ja auch noch ein paar Jahre jünger. Den Höhepunkt seines exzentrischen Auftretens markierte der 25. März 2005, als Malisse beim Turnier in Miami eine Linienrichterin derart übel beleidigte, dass ihn der Tennisverband ATP für einen Monat aus dem Verkehr zog.
Xavier Malisse darf sich immerhin damit trösten, im belgischen Spitzensport kein Einzelfall zu sein. Immer wieder scheitern hoffnungsvolle Talente, denen eine große Zukunft vorhergesagt wird, an bodenständigen Tugenden wie Fleiß und Disziplin. Andere Beispiele sind Radprofi Franck Vandenbroucke, Rallye-Pilot Francois Duval oder Fußballspieler Emile Mpenza. Sie alle könnten zur absoluten Weltelite ihrer Sportart gehören, wenn sie denn ihre Begabung besser umsetzen würden. Das mag auf den ersten Blick einzig und allein an der Einstellung dieser Sportler liegen.
Doch auch die Öffentlichkeit ist dafür verantwortlich, trägt mindestens eine Teilschuld. Denn dem belgischen Sport scheinen große Talente derart unverhofft und selten in den Schoß zu fallen, dass Fans und Medienvertreter Tendenz haben, völlig unkritisch mit ihnen umzugehen. In der Presse werden angehende Superstars mit Samthandschuhen angefasst, weil es sich kein Journalist mit einem Sportler gleich zu Beginn von dessen viel versprechender Karriere verscherzen will. Eine solche Gangart ist aber nicht im Sinne der Athleten à la Malisse, Duval oder Vandenbroucke, denen so nämlich eine pädagogische Instanz fehlt, die sie offensichtlich dringend benötigen.