"Butter bei die Fische": Europa steht vor einer Zeitenwende. Das ist nicht Ausdruck einer morbiden Neigung, sich in möglichst spektakulären Schreckensvisionen zu suhlen - es genügt, eins und eins zusammenzuzählen.
Griechenland ist bankrott. Und zudem dazu verpflichtet, sich buchstäblich kaputtzusparen. Jeder weiß: Griechenland wird es ohne Hilfe nicht schaffen. Hilfe beim Tilgen der Schulden und Hilfe beim Wiederankurbeln der Wirtschaft. Dazu bedürfte es eines veritablen Marshallplans. Das allerdings darf man allen voran den Deutschen und auch den Niederländern nicht erzählen! Deren Geduld mit Griechenland - wohl mit allen Wackelkandidaten - ist am Ende.
Genau da liegt der Fehler! Geht Griechenland baden, dann bekommen alle nasse Füße - mindestens. Allerdings scheint das noch immer nicht jeder verstanden zu haben. Europa steckt in einem Teufelskreis. Eine Pleite Griechenlands würde die Europäischen Banken ins Straucheln bringen. Griechische Staatsanleihen hat wohl jeder im Portfolio, der eine mehr, der andere viel zu viele.
Dexia lässt grüßen. Steckt ein Staat Geld in seine Banken, um sie zu retten, dann muss er sich verschulden. Steigen wiederum die Verbindlichkeiten eines Landes, dann leidet seine Kreditwürdigkeit. Und damit verfällt auch der Wert seiner eigenen Staatsanleihen. Und dann ist das nächste Land fällig, das Karussell dreht sich weiter ... immer schneller.
Diese Spirale muss gestoppt werden. Und hier gibt es eigentlich nur einen Weg: Europa muss Nägel mit Köpfen machen. Jetzt gilt: Entweder ganz oder gar nicht. "Ganz" bedeutet erstens: ein Bekenntnis zur europäischen Solidarität. Das bedeutet ja nicht, dass die bedingungslos sein muss, dass jedes Land machen darf, was es will und am Ende stehen die anderen dafür gerade. Doch darf prinzipiell kein Zweifel daran bestehen, dass niemand fallengelassen wird. Und das heißt: Jeder muss bereit sein, dafür notfalls auch das nötige Geld auf den Tisch legen. Genau hier sind derzeit aber angesichts des immer lauter werdenden Katzenjammers in Deutschland, Holland oder Finnland ernste Zweifel erlaubt.
"Ganz" bedeutet zweitens: Europa muss näher zusammenrücken. Viel näher: Mehr Koordination. Bessere Verzahnung in der Haushalts- und Wirtschaftspolitik. Nationale Interessen müssen mitunter dem europäischen Gemeinwohl weichen. Also: "Mehr Europa". "Mehr Europa?", die meisten Europäer, nicht nur ihre politischen Vertreter, würden da wohl ein nachdrückliches "Nicht mit mir!" entgegnen. Auch hier weht der Wind längst aus der entgegengesetzten, der falschen Richtung.
Ironie der Geschichte: Genau in dem Augenblick, wo die Europäer seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges Europa eigentlich am dringendsten gebraucht hätten, wird genau dieses Europa vielerorts mehr als das Problem denn als die Lösung betrachtet. Das hat man jetzt davon, dass EU-Regierungen jahrelang immer mit dem Finger auf die EU gezeigt haben, wenn es darum ging, unpopuläre Maßnahmen umzusetzen, die man mitunter selbst beschlossen hatte.
In einem Punkt darf kein Zweifel bestehen: Wer sein Heil vor allem in finanziell motiviertem Nationalismus sucht, der ist auf genau dem Holzweg, auf dem man in den 30er Jahren auch schonmal war.
Dennoch: Es steht zu befürchten, dass die EU-Staaten am Sonntag eben nicht das tun, was sie tun müssen. Weil sie es nicht wollen, weil sie es nicht können, da der Rückhalt in vielen Bevölkerungen fehlt.
"Ganz", oder eben… "Gar nicht". Für den Euro, für Europa, geht es ums Überleben. Denn nicht vergessen: Nichts währt ewig! Eine Zeitenwende kündigt sich nicht an, sie wirft allenfalls Schatten voraus. Diese muss man allerdings erkennen, erkennen wollen. Hätte man einen Menschen der 1920er Jahre in eine Glaskugel schauen lassen, er hätte das, was die Zukunft ihm 15 Jahre später bringen würde ... nicht geglaubt.
Inzwischen gibt es aber Vorzeichen, die - wenn man nicht den Kopf in den Sand steckt - im Grunde keine Glaskugel mehr erforderlich machen. Europa wird alt, stirbt aus. Im wahrsten Sinne des Wortes. Europa droht der DemographieGAU. Während der Schuldengrad etwa in Belgien wieder die 100 Prozent- Schwelle schrammt, wird mit jedem Tag die Zahl der Rentner größer. Wir haben viel zu lange über unsere Verhältnisse gelebt, weil wir an ewig währendes Wachstum geglaubt haben.
Jetzt, wo wir das Geld am nötigsten hätten, sind die Kassen leer. Genau das spiegelt denn auch im Grunde das Urteil der gefürchteten Ratingagenturen wider. Europa steht am Scheideweg. Ökonomisch gibt es längst viel interessantere Weltregionen, Wachstumsregionen, Boomregionen. Europa hingegen droht, zu wirtschaftlichen Brachland zu verkommen.
Zeitenwende eben. Und das heißt: Die Vergangenheit ist kein Maßstab mehr. Klammert man sich an die Vergangenheit, dann verpasst man die Zukunft. Im Klartext: Wer in den heutigen Denkschemen verharrt, der wird früher oder später von der Wirklichkeit überrollt. Das gilt für alle, auch in Belgien. Wenn etwa die sozialistische Gewerkschaft FGTB dem Regierungsbildner schon mit "heftigen Protesten" droht, falls jemand Bereiche wie die Arbeitslosenunterstützung oder Frühpensionen auch nur antastet, dann argumentiert man quasi in der Logik der Streiks von 1960.
Wie die neuen Zeiten aussehen werden, das vermag niemand zu sagen, aber eins ist sicher: Die Rezepte der alten Zeiten haben das Land dahin gebracht, wo es jetzt steht: mit einem Schuldengrad von 100 Prozent und einem nicht gelösten Rentenproblem. Umdenken, das gilt nicht nur für die EU, das gilt für alle! Entweder, man schüttet freiwillig Wasser in seinen Wein, oder man kann sich den Wein in naher Zukunft abschminken.
Denn es wäre töricht, weil viel zu einfach, Griechenland zum Einzelfall zu deklarieren. Klar, Athen hat gepfuscht, Griechenland hat eine nicht enden wollenden Latte an politischen Fehlern auf dem Kerbholz ... Doch stecken in allen europäischen Ländern griechische Zutaten. Wenn Europa nicht reagiert, kann sich Griechenland in gewisser Weise als eine Art Glaskugel entpuppen, als ein Blick auf unser aller Zukunft.
Menschen, die im Begriff sind, von jetzt auf gleich alles zu verlieren, einen beispiellosen sozialen Absturz hinzulegen, die in punkto Lebensstandard um Jahrzehnte zurückgeworfen werden. Und die, aus der Verzweiflung heraus, möglicherweise sogar irgendwann - man möchte nicht darüber nachdenken - irgendwann dazu tendieren, dem erst besten Rattenfänger hinterherlaufen. Genau dieses Szenario droht ganz Europa, wenn man sich nicht schnellstens auf die neue Zeit einstellt.
Dies ist kein Plädoyer dafür, Europa und insbesondere Belgien auf Brutalkapitalismus umzupolen. Dies ist kein Plädoyer dafür, der Wirtschaft freie Hand zu lassen, der Gier keinen Einhalt zu gebieten. Der Punkt ist: Episoden wie ArcelorMittal oder das Auftreten von GDF-Suez haben gezeigt: De facto machen Multinationals, was sie wollen. Zumindest in Belgien gibt es niemanden, der sie daran hindern kann.
Man kann, ja man sollte sogar über Alternativen nachdenken. Man kann, man sollte auch versuchen, gleich dem Zauberlehrling den wild gewordenen Kapitalismus zu zähmen. In der Zwischenzeit sollte man aber nicht die Welt vergessen, in der man lebt. Und erstmal geht es ums Überleben. Europa allein kann und wird die Welt nicht verändern. Die Welt wird uns verändern.
Zeitenwende. Es kann nur weh tun, oder eben sehr weh tun. Diese Herausforderung gilt es anzunehmen. Ganz oder gar nicht. Umdenken oder untergehen.
Bild: Alexandros Vlachos (epa)