"Fake News" war das wohl meistgehörte Wort in dieser Woche. Die rechten Mehrheitsparteien warfen den Gewerkschaften vor, ihre Mitglieder eben mit Fake News zu füttern und auf diese Weise gegen die Regierung aufzustacheln. Die linke Seite warf ihrerseits der Arizona-Koalition vor, die Bürger zu belügen und die wahren Folgen ihrer Politik für die Menschen zu verschweigen oder schönzufärben.
Eine zugegebenermaßen vielleicht etwas grobe Zusammenfassung, die im Grunde nur zeigen soll, wohin wir uns bewegen: "Lagerdenken" nennt man das. In den USA hat es auch so angefangen: Erst stritt man über reale und vermeintliche Fake News, dann glaubte man dem politischen Gegner gar nichts mehr, und irgendwann redete man einfach nicht mehr miteinander.
In einer solchen Welt wollen wir nicht landen. Und deswegen wären alle gut beraten, mal einen Gang runterzuschalten und zumindest dem jeweils anderen einfach mal zuzuhören.
Zunächst die Gewerkschaften: Die scheinen sich längst in ihren Positionen eingemauert zu haben. Da wird jede Reform, die auch nur ansatzweise an "Errungenschaften" kratzt, sofort als "unsozial" verteufelt und abgeschossen - selbst wenn es um Dinge geht, die man aus heutiger Sicht einfach nur noch als Privilegien bezeichnen kann.
Vor allem aber wird da die Realität ausgeblendet: In den Augen der Arbeitnehmerorganisationen scheint es kein Haushaltsloch zu geben, auch keinen demografischen Druck auf die Rentenfinanzierung. Und wenn man denn doch mal die Probleme erkennen will, dann liefert man gleich eine doch "ganz einfache" Lösung mit: "Das Geld da holen, wo es ist", "die Reichen besteuern", "die Arbeitgeber in die Pflicht nehmen". Klassenkampf lässt grüßen. Von "Sozialpartnern" würde man sich etwas mehr Verantwortungsbewusstsein und Realitätssinn wünschen - und vor allem ein bisschen mehr Aufrichtigkeit.
Es ist in der Tat schwer zu leugnen, dass insbesondere die sozialistische FGTB ihren Mitgliedern Flausen in den Kopf gesetzt, sie mit Halbwahrheiten aufgestachelt hat. Und eben diese FGTB trieb es dann noch auf die Spitze, als sie quasi die Order ausgab, diese Regierung zu stürzen. Erstens: Für Menschen, die mit der Politik einer Regierung nicht einverstanden sind, sieht die Verfassung eine Lösung vor: Man nennt es "Wahlen". Und zweitens: Die FGTB würde also mit anderen Worten eine Regierungskrise in Kauf nehmen, eine - in Belgien häufig lange - Periode der politischen Handlungsunfähigkeit, in der also die Staatsfinanzen weiter entgleisen würden. Und das in einem Land, das gerade erst den Spitzenplatz in einer doch traurigen Rangliste eingenommen hat, nämlich die der Eurostaaten mit dem höchsten Haushaltsdefizit: 5,5 Prozent des BIP.
Bei allem Respekt: Will die FGTB das Geld drucken? Oder vielleicht die "Reichen" enteignen? Solche Realitätsvergessenheit ist fast schon kriminell. Denn die Finanzmärkte sind unerbittlich: Wenn hier nicht bald einer das Ruder herumreißt, dann zahlen wir das alle cash, und zwar buchstäblich: Schon jetzt zahlt Belgien stetig höhere Zinsen für seine Staatsschuld. Untätigkeit ist keine Option - und eine handlungsunfähige Regierung wäre eine Katastrophe.
Eben diese Feststellungen geben aber der Regierung auch keinen Freifahrtschein, womit wir bei der anderen Seite wären. Denn auch Premier De Wever sagt bei seinen allseits geschätzten Analysen meist nur die halbe Wahrheit, indem er einfach die andere Hälfte verschweigt. Etwa wenn er die nicht zu leugnenden Missstände auf der Ausgabenseite anprangert, dabei aber die Einnahmenseite ausblendet.
Konkret: Ja, es gibt Fehlentwicklungen in der Sozialen Sicherheit, um mal den wichtigsten Posten zu nennen. Und natürlich gibt es da Missbräuche, auch im Bereich der Langzeitkranken. Und natürlich muss man auch dagegen vorgehen. Aber erstens nicht mit der Brechstange, indem man gleich alle Leistungsempfänger als potenzielle Drückeberger anprangert. Und zweitens könnte man - wenn man schon auf der Jagd nach Missständen ist - auch mal auf die Steuereinnahmen schauen. Die schrumpfen nämlich.
Und der Grund sind diverse Hintertürchen, allen voran die sogenannten Management-Gesellschaften, die es erlauben, massiv Steuern zu sparen. Deren Zahl hat sich innerhalb von fünf Jahren verdoppelt. Wen wundert es? Haushaltsminister Van Peteghem hat das immerhin als Problem erkannt. De Wever hat sich aber nie wirklich dazu geäußert. Und bei den laufenden Haushaltsberatungen ist keine Rede mehr davon. Auf dem Tisch liegen letztlich nur Maßnahmen, die vor allem denen wehtun werden, die ohnehin schon nicht die größten Sprünge machen.
Hier muss man natürlich erst noch das finale Abkommen abwarten. Aber allein der Eindruck ist fatal, eben das Gefühl, dass diese Regierung die stärksten Schultern schont und die Last nur den Schwachen aufbürdet. Der Vorwurf, wonach die De Wevers und Bouchez' dieser Welt die gelebte Realität der Durchschnittsbürger nicht verstehen, der kommt definitiv nicht von ungefähr. Und gerade auf den rechten Regierungsflügel bezogen ist das eigentlich auch nichts anderes als Lagerdenken, weil man sich eben der anderen Seite verschließt.
Deswegen der Appell an alle Beteiligten, auf der linken wie auf der rechten Seite: "Schluss mit dem Lagerdenken!" Eine Haushaltssanierung wie diese kann man nur durchziehen, wenn alle die Notwendigkeit erkennen, wenn man aber auch alle mitnimmt. Und das gelingt nur, wenn auch wirklich alle ihren Beitrag leisten. Ohne breite Akzeptanz droht eine Polarisierung und schlimmstenfalls eine Radikalisierung. Politisch wie sprichwörtlich: Die Wahrheit liegt in der Mitte.
Roger Pint