500.000 Langzeitkranke. Eine schwindelerregende Zahl für ein kleines Land. Das bedeutet, dass -"Pi mal Daumen"-jeder zehnte Erwerbstätige seit mehr als einem Jahr krankgeschrieben ist. "Das seien genauso viele wie in Deutschland, und das bei nur einem Achtel der Bevölkerung", hört man da in diesen Tagen häufig. Dieser Vergleich ist allerdings gewagt, da die Systeme nicht so ohne Weiteres vergleichbar sind. Einigen kann man sich aber wohl auf die Feststellung, dass eine halbe Million Langzeitkranke "verdammt viele" sind.
"Zu viele", bis dahin sind sich auch noch alle einig. Doch dann gehen die Meinungen auseinander. Auf der linken Seite des politischen Spektrums erklärt man dieses Phänomen oft mit steigendem Arbeitsdruck, Überbelastung, Stress,... und auch mit den Schwierigkeiten, Privat- und Berufsleben unter einen Hut zu bekommen; und all das mache die Menschen eben auf Dauer krank. Auf der rechten Seite hört man dagegen häufig Begriffe wie "Profitariat", eine polemische Wortbildung zusammengesetzt aus "Profitieren" und "Proletariat"; da werden Langzeitkranke also letztlich pauschal als Drückeberger abqualifiziert.
Die Wahrheit liegt wohl -wie so häufig- irgendwo in der Mitte. Wobei: In diesen Tagen wurde eine Studie veröffentlicht, die doch zu denken gibt. Das Landesamt für Kranken- und Invalidenversicherung (Likiv) hat eine Reihe von Stichproben gemacht: Die Akten von Langzeitkranken, die bis zu ihrem Renteneintritt krankgeschrieben sind, wurden noch einmal unter die Lupe genommen. Resultat: Die Hälfte der Dossiers rechtfertigt keine unbegrenzte Arbeitsunfähigkeit. Bei einem Viertel von ihnen stellte sich sogar heraus, dass die Betreffenden zu Unrecht als invalide eingestuft wurden. Zu Unrecht! Heißt also: Die wären eigentlich arbeitsfähig. Und das deckt sich letztlich auch mit einer gewissen "gelebten" Realität: Wenn man ehrlich ist, kennt jeder wohl den einen oder die andere, die trotz bescheinigter "Invalidität" doch noch sehr "aktiv" sind, um es mal sehr diplomatisch zu formulieren.
Und genau hier liegt das Problem. Solche Fälle von offensichtlichem und nun auch dokumentiertem Missbrauch unterminieren die Soziale Sicherheit und damit auch den Staat, machen sie angreifbar. Gerade in der heutigen Zeit mit ihren Fake News und ihrer gezielten Desinformation sind Vertrauen und Glaubwürdigkeit von zentraler Bedeutung. Wer mit eigenen Augen offensichtliches Staatsversagen beobachtet, der verliert auch seinen Glauben in "das System", gar in die Demokratie schlechthin. Der Staat hat mehr denn je ein buchstäblich "vitales" Interesse daran, Effizienz und -mit Blick auf die Steuergelder- absolutes Verantwortungsbewusstsein an den Tag zu legen. Und das erst recht, wenn gerade wieder eine neue Sparrunde ansteht, von der jeder weiß, dass sie -ob ihres schieren Volumens- schmerzhafte Einschnitte mit sich bringen wird, die uns allen wehtun werden... Apropos: Die von Vooruit vorgeschlagene Einführung einer Millionärssteuer wäre für die Regierung wohl durchaus einfacher und wahrscheinlich auch ertragreicher. Scharfmacher treten aber offensichtlich lieber nach unten als nach oben.
Aber, gut... Das alles nur, um zu sagen: Natürlich müssen solche Missbräuche abgestellt, müssen offensichtliche Profiteure aus ihren Hängematten geschüttelt werden. Der föderale Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke hat genau das aus genau den oben genannten Gründen verstanden. Er weiß auch, dass man unsere Sozialsysteme auf Dauer nur retten kann, -klar- wenn man sie zukunftsfähig macht, wenn man aber auch dafür sorgt, dass sie größtmögliche Akzeptanz und Vertrauen genießen. Ansonsten macht man nur das Bettchen derer, die kollektive Solidarität abschaffen wollen und denen eine Welt des "jeder für sich" vorschwebt.
Vandenbroucke, der flämische Sozialist, bekommt aber mächtig Gegenwind von der roten Opposition aus dem Süden des Landes: Von der marxistischen PTB sowieso, die ja -de facto- weiter von einer kommunistischen Insel der Glückseligkeit träumt. Kritik kam aber auch von der frankophonen Schwesterpartei PS, die hier -einmal mehr- auf einem Irrweg ist und weiter unbeholfen der populistischen Linken hinterher stolpert.
Aber in einem Punkt hatte PS-Chef Paul Magnette recht; in einem wirklich entscheidenden: Man darf nicht alle über einen Kamm scheren! Denn unter diesen Langzeitkranken sind -natürlich- auch Menschen, die eben krank sind, die "nicht mehr können", die von ihrer Gesundheit im Stich gelassen wurden, deren Leben zu einem einzigen Leidensweg geworden ist, den man -bei aller Unterstützung durch Angehörige und Freunde- am Ende immer auch irgendwie alleine beschreiten muss. Wer hier fast schon die "Jagd auf Langzeitkranke" eröffnet und mit Begriffen wie eben "Profitariat" herum schmeißt, der nimmt auch diese Menschen ins Visier, stellt sie an den Schandpfahl, stigmatisiert sie.
Und der demonstrative Applaus insbesondere der N-VA für die Ankündigungen des Gesundheitsministers war für Vandenbroucke letztlich ein vergiftetes Geschenk: Er wurde dadurch als der schonungslose Jäger hingestellt, der er ausdrücklich nicht sein will, ist er doch bei alledem betont nuanciert.
Das ist der Punkt: Hier geht es nicht um das "Ob": Abgesehen von ein paar dunkelroten Revoluzzern sollte das eigentlich unstrittig sein. Nein, hier geht es vor allem um das "Wie". Konkret: Wie stellt man Missbräuche ab, ohne die wirklich Bedürftigen dabei mit aufs Korn zu nehmen? Denn gerade für sie wäre das wirklich des Schlechten zu viel.
Roger Pint