Der frühere Bundesligatorwart Wolfgang Kleff, der wegen seines Aussehens schon mal mit Otto Waalkes verwechselt wurde, ist so etwas wie ein Fußballweiser vor dem Herrn. Dieser Wolfgang Kleff hat also ein für alle Mal festgehalten, dass Fußball eines der fehlerhaftesten Spiele sei, die es gibt. Tore entstünden durch Fehler. Aber Fußball sei auch "ein einfaches Spiel und keine Wissenschaft".
Nationaltrainer Domenico Tedesco, immerhin Jahrgangsbester seines Fußballlehrgangs, drückte sich etwas akademischer aus: Im Fußball, sagte Tedesco, gebe es "keine normale Ordnung wie in der Mathematik oder in der Physik".
Recht haben beide, auch wenn Wolfgang Kleff mit seiner Argumentation gerade auf die Trainergeneration von Domenico Tedesco anspielt, die den Fußball mittels Daten, soweit es geht, beherrschbar machen will.
Fußball ist keine exakte Wissenschaft und das macht gerade den Reiz aus. Auch wenn am Ende eine bittere Niederlage steht. Schuld daran sind nun mal in der Regel überaus menschliche Fehler.
Das scheint nicht jedem zu gefallen, weswegen seit einiger Zeit die Segnungen moderner Technik die Regelauslegung unangreifbarer machen sollen. Allen voran der "Video Assistant Referee" (VAR), der den Schiedsrichter auf strittige Situationen hinweisen soll - nach einem vorher festgelegten Muster. Das erklärt, warum er sich mal meldet und mal nicht. Dann gibt es da noch die Torlinientechnologie und den Chip im Ball, mit dem die belgische Fußballgemeinde, aber auch alle Liebhaber des Spiels diese Woche auf unbefriedigende Weise Bekanntschaft gemacht haben.
Ein Sensor im Ball hatte registriert, dass Vorlagengeber Loïs Openda bei seinem unwiderstehlichen Sturmlauf den Ball mit den Fingerspitzen berührt haben muss. Der VAR konnte daraufhin nicht anders, als den Schiedsrichter zu instruieren, damit er sich selbst ein Bild davon mache - ja, und was sollte der schon machen angesichts der erdrückenden Beweislage mit dem vor aller Augen eingespielten "EKG"?
Nun, er hätte das zeigen können, was in dieser Szene angebracht gewesen wäre und wofür das Spiel überhaupt einen Schiedsrichter braucht: Fingerspitzengefühl. Einschätzen, inwiefern sich der Spieler in dieser Aktion einen ungerechtfertigten Vorteil verschafft hat; ob die Flugbahn des Balls verändert wurde; ob das natürlich verbotene Handspiel als solches zu bewerten ist oder als unfreiwillige Bewegung. Das nennt man Ermessensspielraum.
Hand ist Hand? Da können wir uns aber noch viele nachgewiesene Handspiele anschauen, die ohne Folgen geblieben sind - aufgrund der folgenden Einschätzung.
Das mag parteiisch klingen, weil es in diesem Fall um Belgien geht. Aber die offensichtlichen Fehlentscheidungen der Unparteiischen zu Ungunsten etwa von Österreichern, Ungarn oder Tschechen, die jeweils einem Gegentor vorausgingen (ohne Eingriff des VAR!), regen mich mindestens genauso auf. Gleichwohl muss ich sie akzeptieren.
Irren ist menschlich und Fehler gehören zum Fußball, wie Wolfgang Kleff sagte. Wenn aber das, was dem Schiedsrichter bei seiner Entscheidung helfen soll, ihm die Entscheidungsfreiheit, den Ermessensspielraum nimmt, stellt sich mir die Frage, ob wir wirklich beides, Schiedsrichter und Technik, brauchen. Oder ob wir nicht auf eines davon verzichten können.
Stephan Pesch