Das ist also der Wahlkampf. Nie zuvor sind wir auf so vielen Kanälen umworben, bespaßt, auch belästigt und vielleicht überzeugt worden. Ganz klassisch mit Plakaten, Broschüren, Haustürkontakten, Interviews und Podiumsdiskussionen.
Oder so: Spitzenpolitiker mal ganz anders. Im Pyjama auf der Couch, mit Karaoke- oder Dance-Challenge. Oder in einer Zwangs-WG wie bei Big-Brother, "Holt mich hier raus!" Oder auch ("um sie mal so richtig unter Druck setzen") im Freizeitpark: auf der Achterbahn oder im Wildwasser - inklusive nasser Hintern (also nicht auf Grundeis, wenn ihr versteht, was ich meine …)
Was soll das? Politik, das ist kein Freizeitpark. Das ist kein Ponyhof. Und das ist auch kein Karaoke-Wettstreit. Fein dosiert werden in solche trivialen Formate zwar auch mal ein paar ernstere Fragen reingemogelt, als Appetithappen zwischen zwei Challenges. Im Großen und Ganzen aber: Wahlkampf für Dummies. Neil Postman brachte es vor vielen Jahren auf den Punkt: "Wir amüsieren uns zu Tode".
Wer sich daran noch erinnern kann, gehört wie ich auch nicht zur Zielgruppe dieser neuen Form der angeblichen Vermittlung politischer Inhalte. Das sind die sogenannten Erstwähler. Bei diesen Wahlen erstreckt sich die Spanne immerhin von 16-jährigen Teenagern, die bei Europa mitwählen dürfen, bis zu 23 Jahre alten jungen Erwachsenen, die vor fünf Jahren noch nicht das Wahlalter der Volljährigkeit erreicht hatten, inzwischen aber vielleicht schon eine eigene Familie haben.
Eine Generation, die mit einer völlig neuen Medienumgebung groß geworden ist. Stichwort: Aufmerksamkeitsspanne. Ich bin noch nicht einmal bei TikTok! Da tummeln sich besonders gerne auch solche, die wissen, wie man junge Leute manipuliert. Ich spreche nicht von oberflächlichen Videos mit dem Hündchen oder im Fitness-Studio. Das ist sowas von Facebook oder Instagram.
Ich spreche davon, dass gerade rechtsextreme Parteien ihren Fokus auf solche Plattformen richten. Mit dem Argument, sie würden ja sonst nicht gehört. Von wegen Cordon sanitaire. So können sie dort mehr oder weniger ungestört beeinflussen. Auf demselben Mist wachsen dann Vorbilder für rassistische Partyhits, wie sie durch das Sylt-Video öffentlich wurden. Gesungen werden sie in feucht-fröhlicher Runde auch in Ostbelgien.
Was ist dem entgegenzusetzen? Zunächst einmal andere, seriöse Politiker, die sich nicht anbiedern und, pardon, mehr oder weniger zum Affen machen. Und dann? Die Eltern? Die Schule? Dazu meldet sich in dieser Woche die Jugendorganisation der Regierungspartei, die seit 20 Jahren das Bildungsressort in der Deutschsprachigen Gemeinschaft verantwortet. Und damit auch die politische Bildung - und sei sie fächerübergreifend. jDG hält trotz aller Reformen und neuen Ansätze das Ergebnis für "dürftig".
Darum empfiehlt sie selbst den direkten, persönlichen Austausch mit den Politikern. Und die politische Selbsterfahrung in Rollenspielen oder Diskussionsrunden. "Nur nach entsprechender Aufklärung und Vorbereitung" sehen die Jungpolitiker eine Wahlpflicht ab 16 Jahren für "vertretbar". Sieh mal einer an! Am Ende wollen die jungen Leute von Politikern gar nicht bespaßt werden. Vielleicht wollen sie lieber ernst genommen werden. So wie alle anderen Wähler auch!
Stephan Pesch
Das sollte doch zum Nachdenken anregen. Guter Kommentar.
Die Demokratie bewahren kann man nur durch ein mehr an Mitbestimmung, am besten direkte Demokratie nach schweizer Modell.Wenn Bürger es gewohnt sind, in regelmäßigen Abständen an einer Abstimmung teilzunehmen, sind sie sich der Verantwortung bewusst und handeln vernünftig.Dann haben rechte und linke Rattenfänger keine große Chance, egal wie die sich bei TikTok präsentieren.Dann haben TikTok Videos höchstens Unterhaltungswert.
Politiker sollten sich lieber Gedanken machen zum Thema "direkte Demokratie" anstatt sich bei trivialen Dingen in den Medien zu präsentieren.Es gibt so genug Showmaster.
Im Amerikanischen heißt es : "Every Soldier is a rifle man." auf deutsch : "Jeder Soldat ist ein Schütze.". Angewandelt könnte man auch sagen : "Every citizen is a politician." auf deutsch : "Jeder Bürger ist ein Politiker."
Jedwedes kritisches Denken wird in der westlichen Zivilisation unterdrückt. Die industrialisierte Massenproduktion mit ihren standardisierten Waren kann sich eine kritische, intelligente Masse nicht leisten, denn diese würde die derzeitige politische, soziale und wirtschaftliche Ordnung implodieren lassen. Die Menschen werden über die Werbung dazu erzogen, impuls- und gefühlsgesteuerte irrationale Entscheidungen über Käufe aller Art zu treffen. Das schwappt aus der Industrie in die Politik über. Wozu sonst wurde das Fernsehen erfunden? Sie beschweren sich nur über die Symptome. "Wahlkampf für Dummies" kommt von innen. Die geschaffenen Strukturen benötigen die Dummies, um überleben zu können.
„Jedwedes kritisches Denken wird in der westlichen Zivilisation unterdrückt.“
Der ist gut! In Wirklichkeit gibt es nirgends so viel kritisches Denken wie in der „westlichen Zivilisation“. Nirgends sind die Bürger informierter, aufgeklärter und auch bereit, für ihre Rechte, die Rechte anderer, gegen Ungerechtigkeit, gegen Umweltzerstörung und gegen oder für was auch immer auf die Straße zu gehen oder in sozialen und weniger sozialen Medien ihre Meinung kundzutun. Niemand ist gezwungen „industrialisierte Massenproduktion“ zu konsumieren oder „Fernsehen zu schauen“.
Unterdrückt wird kritisches Denken in erster Linie in Autokratien und Diktaturen (weltlicher und religiöser Prägung: Russland, China, Iran, Afghanistan,…) durch gleichgeschaltete Staatsmedien, Unterdrückung der freien Meinungsäußerung, Repression, Inhaftierung, Gewaltausübung, Todesstrafe,…
Wenn Sie das westliche politische, soziale und wirtschaftliche System „implodieren“ sehen wollen, wäre es zur Aufklärung der Menschen hilfreich zu wissen, wodurch Sie es ersetzen wollen: Kommunismus, Kalifat oder Autokratien à la Orban und Erdogan?
Herr Leonard
Sagen wir so : "in den westlichen Ländern wird kritisches Denken weniger unterdrückt als in autoritären Systemen.". Hierzulande ist auch nicht alles Gold was glänzt.Hier läuft das anders.Wer aneckt, wird nicht nach Sibirien oder ins Gefängnis geschickt.Der bekommt nicht die ersehnte Beförderung, wird bei der Bildung von den Parteien im Vorfeld der Wahl bei der Listenbildung "vergessen", oder es gibt eine Schmutzkampagne in den Medien etc.Der Möglichkeiten gibt es viele.Das ist manchmal effizienter als jemand nach Sibirien verbannen.Die Methoden sind verschieden in Diktatur und Demokratie, aber gleich in ihrer Zielsetzung, nämlich lästige Konkurrenten und nicht angepasste Personen aus dem Weg zu räumen.In der Politik gibt es keine Freunde, nur gemeinsame Interessen, das ist so überall auf der Welt.
Werte Politiker, wie wäre es mit mehr Realitätssinn anstatt links-grüne Ideologien?
Seit Jahren Gegner der Kernenergie und nun ein Comeback derselben weils ohne scheinbar nicht geht.
Seit Jahren Anhänger von Pazifismus und nun ist von Waffenlieferungen bis Wehrpflicht wieder alles möglich.
ok, nobody is perfect, dann könnt ihr Polit-Heinis ja mal FEHLER eingestehen.
Vielleicht kommt ihr damit sogar besser aus der Corona-Zwickmühle.
Ich kann ja verstehen, dass niemand gerne den Judas spielen will... 😉
Ich muss Dieter Leonard recht geben, wenn er meint "In Wirklichkeit gibt es nirgends so viel kritisches Denken wie in der „westlichen Zivilisation“.
Auf Worte lasset Taten walten! Lasst zuerst das kritische Denken wieder öffentlich zu, in den öffentlich-rechtlichen Medien, die gesetzlich dazu verpflichtet sind.
Theoretisch? Theoretisch!
Es wird wieder notwendig, dass öffentliche Posten mit Menschen besetzt werden, die kompetent sind, denn es werden/wurden Posten mit Personen besetzt, wo Loyalität höher eingestuft wurde als Kompetenz und Zuverlässigkeit.
@G. Scholzen
Meinen Sie mit „Kompetenz“ z.B. wenn jemand die beiden zentralen Krisen, mit denen wir es zur Zeit und in den vergangenen Jahren zu tun haben/hatten, wiederholt mit „Corona-Quatsch“ und „Klima-Quatsch“ bezeichnet oder diese gar leugnet?
Herr Leonard,
Ihr kritisches Denken wird immer besser!
Weiter so! 👍
Herr Leonard, dass Sie ausgerechnet Russland, China, Iran und Afghanistan aufzählen ist kein Zufall. Das sind alles Regionen und Staatsgebilde, die eine lange Tradition und kulturelle Verwurzelungen aus tausenden von Jahren vorweisen können. Die wehren sich gegen die gleichgeschaltete, standardisierte und damit manipulierbare Popkultur westlicher Prägung und beharren auf ihren Familien- und Menschenbildern. Australien und ganz Amerika + Israel wurden nur von Europäern besiedelt; aber nicht, weil Europa so schön war. Dann hätten sie da bleiben können. Die meisten waren Auswanderer, die im Zuge der Industrialisierung ihr Eigentum verloren bzw. durch einfache bäuerliche Handarbeit verarmten, da sie gegen die Industrieprodukte nicht ankamen und keinerlei Zukunft hatten. Kritik war schon damals unerwünscht. Alle Probleme dieser Welt sind nicht somit ungelöste innere Probleme von Europa. Diese kommen nun zurück. Wer diese Probleme lösen kann, wird ermächtigt. Wer nicht, fliegt.