Der Schock stand der Verteidigungsministerin Ludivine Dedonder und auch dem Generalstabschef Michel Hofman noch ins Gesicht geschrieben. "Um Gottes willen, wie ist es möglich?", das werden sich viele gedacht haben, als die beiden die Missstände enthüllten, die offensichtlich beim 4. Pionierbataillon in Amay geherrscht haben.
Die Schlagzeile von Het Laatste Nieuws sagt eigentlich alles: "Soldaten verkauften Waffen an die Mafia", stand da in fetten Buchstaben zu lesen. Ja, richtig gehört! Soldaten sollen einen illegalen Handel mit Waffenteilen und Munition organisiert haben. Nebenbei wurden auch Drogen verkauft. Und zu den Kunden gehörten die albanische beziehungsweise tschetschenische Mafia.
Und das ist ja nur ein kleiner Ausschnitt. Menschenverachtende Aufnahmerituale, physische Gewalt bis hin zur Vergewaltigung, Demütigungen, Erpressung, Nötigung, ... In mindestens einem Zug muss ein wahres Terrorregime geherrscht haben. Nur nochmal zur Erinnerung: Die Rede ist von den Streitkräften!
Wenn sich all diese Vorwürfe bewahrheiten, dann kann man nur behaupten, dass "im Schoße der Armee" offensichtlich eine Parallelwelt entstanden ist, eine Anarcho-Insel im luftleeren Raum, fernab von sämtlichen Regeln und Normen.
Der Skandal um den "Zug von Amay" lässt denn auch schon jetzt eine erste, im Übrigen ziemlich beklemmende Schlussfolgerung zu, die da lautet: Das Undenkbare ist offensichtlich möglich. Und, wenn dem so ist, also wenn ein Zug innerhalb der Armee am Ende ein derart abnormes Eigenleben führen kann, mit einer fast endlos langen Liste an groben Entgleisungen, dann sieht das doch sehr nach einem Systemversagen aus.
Konkret gefragt: Wie kann es sein, dass all das niemandem aufgefallen ist? Wo war die Hierarchie? Wo war der Militärgeheimdienst? Klar: Wenn innerhalb eines Zuges selbst die leitenden Offiziere integraler Bestandteil eines verrotteten Systems sind, dann wird es schwierig, von außen einen genauen Blick darauf zu bekommen. Aber das Ganze ist doch derartig starker Tobak, ein Querschläger so groß wie ein Scheunentor, so etwas kann -besser gesagt- darf doch nicht im Verborgenen bleiben!
Und das Systemversagen wird komplett, wenn man sich die Umstände vor Augen hält, wie der Skandal von Amay letztlich ans Licht gekommen ist: Angehörige eines Opfers hatten nämlich die Verteidigungsministerin persönlich kontaktiert, um auf die Missstände hinzuweisen. Den armeeinternen Anlaufstellen hat man offensichtlich nicht vertraut.
Sogar Verteidigungsministerin Dedonder scheint zu ahnen, dass das vielleicht nur die Spitze des Eisbergs ist. Sie erneuerte ihren Appell an alle, die Zeugen oder Opfer von Übergriffen oder Missständen aller Art geworden sind, sich schleunigst mit ihrer Hierarchie beziehungsweise den eigens für solche Fälle zuständigen Vertrauenspersonen in Verbindung zu setzen.
Dieser Aufruf wirkte irgendwie verzweifelt, gar hilflos. Also: Nicht nur, dass die interne Kontrolle versagt hat. Das Misstrauen und die Angst sind so groß, dass man es nicht einmal wagt, mit irgendwem innerhalb der Armee über ungeheure und ungeheuerliche Missstände auch nur zu sprechen. Das verheißt nichts Gutes.
Und bei alledem wäre es fast schon ein Wunder, wenn nicht auch noch andere durch die offensichtlich übergroßen Maschen geschlüpft sind. Diese Feststellungen sind dann doch ziemlich ernüchternd. Denn das ist ja längst nicht das erste Mal, dass die Verhältnisse innerhalb der Streitkräfte allgemeines Kopfschütteln hervorrufen.
Man erinnere sich nur an Jürgen Conings, jenen ehemaligen Elitesoldaten, der nach extremrechts abgedriftet war, sich radikalisiert hatte, und am Ende sogar den Virologen Marc Van Ranst töten wollte. Dieser Jürgen Conings wurde zwar vom Antiterrorstab OCAM als potenzieller Gefährder eingestuft, konnte aber nichtsdestotrotz in die Waffenkammer seiner Kaserne spazieren, um sich die Ausrüstung für seine irren Anschlagspläne zu beschaffen.
Die belgischen Fallschirmjäger werden auch in regelmäßigen Abständen auffällig. Man denke nur an die Foltervorwürfe im Rahmen der UN-Blauhelmmission 1997 in Somalia. Gerade vor einigen Wochen erst sind vier Paras in einem norwegischen Gefängnis gelandet, weil sie in einem Café eine wüste Schlägerei angezettelt hatten.
Bei alledem darf doch die Frage erlaubt sein, ob man bei der Armee tatsächlich immer noch nichts hinzugelernt hat. Klar, man darf hier nicht verallgemeinern. Die meisten der Frauen und Männer, die in den belgischen Streitkräften dienen, leisten bestimmt einen fantastischen Job und setzen dabei immer wieder auch ihr Leben aufs Spiel. Aber eben weil dem so ist, muss alles dafür getan werden, dass schwarze Schafe möglichst früh erkannt und aussortiert werden.
Denn eine Armee, bei der man sich nicht auf die internen Kontrollmechanismen verlassen kann; eine Armee, bei der man nicht sicher sein kann, dass hinter den Kasernenmauern alles nach denselben Regeln abläuft, wie in der zivilen Welt; eine Armee, die nicht auf dem Schirm hat, wenn Soldaten, die bekanntermaßen Zugang zu schweren Waffen haben, auf Abwege kommen; eine solche Armee ist mit einer Demokratie nicht zu vereinbaren.
Erst recht in diesen unruhigen Zeiten, in denen die Landesverteidigung nach Jahrzehnten der manchmal naiven Sorglosigkeit wieder in den Vordergrund rückt, bedarf es einer Armee, der man wirklich in allen Belangen vertrauen kann.
Roger Pint
Das eine Armeeeinheit ein Eigenleben führte, konnte nur passieren, weil die belgischen Streitkräfte eine Berufsarmee sind. Eine Berufsarmee ist so etwas wie ein Kampforden, der nur die aufnimmt, die den Kriterien entsprechen.
Bei einer Wehrpflichtsarmee kann das nicht so schnell passieren. Die ist mehr integriert in die Gesellschaft, weil ständig neue Zivilisten kommen, um Militärdienst zu leisten.
Sadismus und Korruption ist doch in fast jeder Armee der Welt Normalität. Willkommen in der Realität.