Wer wie ich das Glück hatte, in politisch unverdächtigen Zeiten die legendäre "Russendisko" des Exil-Russen Wladimir Kaminer zu besuchen, erinnert sich bestimmt an die Videoclips, die zu Balkan-Beats und Ostblock-Rock’n’Roll im Hintergrund liefen: Cartoons vom bösen Wolf und Schweinchen Schlau, bei denen verlässlich der böse Wolf den Kürzeren zog.
Das Leben ist aber kein "Trickfilm". Das sagte noch zuletzt kein Geringerer als Wladimir Putin in seiner Märchenstunde zur Lage der Nation. In seinem unergründlichen Humor verstand er es als Maßregelung an den Westen und insbesondere die Europäer.
Denen steckte noch der Schreck in den Knochen, nachdem Frankreichs Präsident Emmanuel Macron - wohlgemerkt: auf die gezielte Frage einer Journalistin hin - geantwortet hatte, dass nicht ausgeschlossen werden dürfe, auch Bodentruppen in die Ukraine zu schicken, um Russland vom Sieg abzuhalten. Seitdem wird aufgeregt darüber diskutiert, welche Strategie Macron damit verfolgt haben könnte. Putin gab es die Gelegenheit, (mal wieder) mit dem atomaren Hammer zu drohen. Die Konsequenzen, heuchelte er, wären "tragisch" ...
"Tragisch" ist in der Tat, was sich seit zehn Jahren, seit der Annexion der Krim und seit der Besetzung der östlichen Ukraine abspielt. "Tragisch" sind das Massaker von Butscha und andere Kriegsverbrechen nach dem von Putin befohlenen Einmarsch. "Tragisch" ist der systematische Beschuss von ukrainischen Städten und lebensnotwendiger Infrastruktur. Das ist doch alles sehr weit weg? Nun ja, "tragisch" wären die Konsequenzen auch für die westlichen Nachbarn, wenn man Putin einfach machen ließe.
Während ich das hier schreibe, wird in Moskau der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny beigesetzt. Er war vor zwei Wochen unter bislang ungeklärten Umständen im Straflager ums Leben gekommen. Tausende mutige Menschen trotzen der Drohgebärde des autoritären Regimes. Sie hätten - wie er - "keine Angst", rufen einige von ihnen. Das unterscheidet sie von uns.
Die Witwe Julija Nawalnaja, die diese Woche noch in Straßburg vor dem Europaparlament gesprochen hat, ist nicht gekommen, auch Tochter Darja nicht und Sohn Sachar. Sie riskieren bei einer Einreise, festgenommen zu werden, so wie es Alexej Nawalny nach überstandenem Giftanschlag mit seiner Rückkehr in Kauf nahm. Tragisch.
Übrigens: Nach Putins Angriff auf die Ukraine hat Wladimir Kaminer seine "Russendisko" umbenannt … in "Ukraine"-Disko. Ob auch da Cartoons gezeigt werden, in denen der böse Wolf den Kürzeren zieht, weiß ich nicht.
Im Moment tourt Kaminer mit seinem Programm "Frühstück am Rande der Apokalypse". In seinem Blog schreibt er diese Woche über die vielen Russen, die vor Putin in den Westen geflohen sind. Sie hätten gehofft, bald zurückkehren zu können, schließlich wisse man "aus Hollywoodfilmen, dass das Gute am Ende immer über das Böse siegt". Manchmal dauere es auch unerträglich lange, wie bei diesem Kriegsfilm, der sich seit über zwei Jahren hinzieht, ein Ende nicht in Sicht. Doch, so der Exil-Russe Kaminer im Namen seiner Landsleute: "Die Hoffnung stirbt zuletzt."
Stephan Pesch
Der russischen Einmarsch in die Ukraine ist durch nichts zu rechtfertigen und darf nicht beschönigt werden.
Die Umbenennung der Russendisko hat der Ukraine nichts genutzt. Der Organisator wollte wahrscheinlich nur seine Ruhe haben und hat sich dem Zeitgeist angepasst wonach alles russische verteufelt werden muss. Auch nach 9/11 wurden Fritten in den USA in freedom fries umbenannt. Umbenennungen sind also nichts außergewöhnliches.
Der einzig wirkliche Unterschied zwischen Putin und Macron ist der, dass Putin in der Ukraine Kolonialismus betreibt und Macron in Afrika. In der Hinsicht sind die beiden sich ähnlicher als sie zugeben wollen.