Ach, du meine Güte! Da haben wir noch nicht mal richtig Sommer und schon wieder ein Sommerthema: Wer sind wir eigentlich? Oder: wer wollen wir eigentlich sein? Gut, aus dem Sauregurkenglas ist das Thema diesmal nicht gefingert worden. Es kam wie ein Sommergewitter aus heiterem Himmel: Das Zentrum für soziopolitische Forschung und Information (CRISP) hat sich des „geläufigen“ Begriffs angenommen, der seit vier Jahren als Standortmarke für die Region und in der Region wirbt: „Ostbelgien“. Und nun war eben die gut 50-seitige Veröffentlichung an der Reihe.
Dass sich die Deutschsprachige Gemeinschaft als Institution den Begriff „Ostbelgien“ als identitätsstiftend und -beschreibend ans Revers geheftet hat, ist auch hier schon hinreichend als geschickt, als clever und … als zwangsläufig beschrieben worden. Denn er ist ja schon viel länger fest in der Bevölkerung verankert, als es die beiden Autoren der CRISP-Studie, Laurine Dalbert und Cédric Istasse, anhand mehr oder weniger offizieller Ersterwähnungen bis Anfang der 90er Jahre zurückverfolgen. Und zwar gerade weil er dehnbar ist, weil er mit verschiedenen Inhalten gefüllt werden kann, weil er in unterschiedlichen Zusammenhängen von unterschiedlichen Akteuren unterschiedlich wahrgenommen werden kann! Innen wie außen.
Wenn es die Akteure ganz besonders flott und international meinen, wird daraus ein in der herrschenden Lingua franca gehaltenes „East-Belgium“. Oder eben ein selbstbewusstes „Ostbelgien“ - nur noch mal der Klarheit wegen: in der so aufgeladenen Bedeutung lässt sich der Begriff auch gar nicht übersetzen. Dass er geographisch ungenau ist? Na und? Das ist „Deutschsprachige Gemeinschaft“ auch, insofern als der in der belgischen Verfassung verankerte Begriff gar nicht das Territorium meint. Da ist, wie Dalbert und Istasse in Erinnerung rufen, von „deutschem Sprachgebiet“ die Rede. Von anderen kreativen Schöpfungen wollen wir an dieser Stelle gar nicht reden.
In Umfragen, auch das listet die Studie auf, schießt „Ostbelgien“ als Heimatbegriff im Vergleich zu anderen Bezeichnungen den Vogel ab, und das schon bevor er als Standortmarke eingeführt wurde - wobei eher davon auszugehen ist, dass ihm genau das darum widerfahren ist. Ob er es dann auch eines Tages in die Verfassung schaffen wird, steht auf einem anderen Blatt - das hängt von anderen Faktoren ab als von der Namenswahl. Sollte wie in anderen Politikbereichen dem Bürger das Wort oder ein Mitspracherecht überlassen werden, deuten die gerade erwähnten Umfragen schon mal eine Richtung an.
A propos Bürgerbeteiligung in der Deutschsprachigen Gemeinschaft: Damit setzte sich halb anerkennend, halb bewundernd diese Woche ein ganzseitiger Artikel in der Aachener Zeitung auseinander. Gut, nicht die New York Times, aber bezeichnend wenn der Brüsseler Korrespondent bei unseren Nachbarn von einer „Mitmach-Demokratie“ und einem „viel beachteten, demokratischen Zukunftsmodell“ schreibt und offensichtlich wohlmeinend „alles, was derzeit in Eupen, Malmedy, Bütgenbach, St. Vith oder Waimes passiert“ in einen Topf schmeißt. Ich weiß, ich weiß … das kommt davon, wenn die Begrifflichkeiten nicht klar umrissen sind. Aber ist das wirklich so schlimm?
Da stört mich eher, wenn der zugegeben dehnbare Begriff „Ostbelgien“ irreführend verwendet wird. Wie Dalbert und Istasse aufklären ist die Marke Ostbelgien (und auch das Ostbelgien-O) geschützt - nicht aber der Begriff an sich. Ich gehöre einem Fußball-Fanclub an, der sich ohne große Hintergedanken in tempore non suspecto (also lange vor dem Standortmarketing) diesen Herkunftsnachweis ausgesucht hat. Völlig selbstverständlich haben sich auch Anhänger aus Flandern, Luxemburg und Deutschland unter die ostbelgische Dachbezeichnung geschart.
Und was ist, wenn sich wer nicht „als ein Teil von“ sondern als „anstelle von“ versteht? Ende letzten Sommers hat sich eine Facebook-Gruppe den Namen „Ostbelgien steht auf“ zugelegt. Das klingt für mich so ein bisschen wie „Deutschland erwache!“, aber was soll’s. Inwieweit diese Gruppe für Ostbelgien steht, sei mal dahingestellt. Vor genau einem Monat hat sie ihren recht intensiven Mitteilungsdrang (Stil Eva Herman & Co) mit einer kurz angebundenen Mitteilung von Facebook nach Telegram verlagert. Was an sich keine schlechte Sache ist, weil sie dann eher unter sich bleibt.
Ein Schmankerl präsentierte uns die Gruppe Mitte dieser Woche dann doch noch auf Facebook: Ein Interview des niederländischen Ablegers des russischen Propagandasenders RT mit der früheren Raerener Schöffin Heike Esfahlani-Ehlert. Fast dreiviertel Stunde lang schildert sie in dem englischsprachigen Interview, wie sie als Schöffin aus ihrer Sicht „abserviert“ wurde … und warum sie bei „Ostbelgien steht auf!“ nun so etwas wie „Widerstand“ leiste. „Wow“, sagt die Interviewerin an einer Stelle. Und auch mir blieb (aus anderen Gründen) der Mund offen stehen. Dieselbe Interviewerin zeigt in einer Preview auf ihrem eigenen Facebook-Konto unter anderem kurze Auszüge aus einem Gespräch mit Vivant-Chef Michael Balter. Wir dürfen gespannt sein ...
Stephan Pesch