"Es muss nicht unbedingt einen großen Knall geben. Demokratien sterben heutzutage leise", schreiben sinngemäß die beiden Harvard-Professoren Steven Levitksy und Daniel Ziblatt.
Und genau diese Gefahr wird immer greifbarer. In Großbritannien etwa hat der neue Premierminister Boris Johnson in dieser Woche das Parlament mal eben kaltgestellt. Ausgerechnet in Großbritannien, dass doch eigentlich als die Wiege des Parlamentarismus gilt.
Streng genommen bewegt sich Boris Johnson offensichtlich im Rahmen der verfassungsrechtlichen Regeln. Dass ein neuer Premierminister die Arbeiten des Parlaments aussetzen lässt, ist nicht unüblich, wobei es auch nicht oft vorkommt. Allerdings: Die Zwangspause ist nicht nur ungewöhnlich lang, der bloße Zeitpunkt, macht aus dem Schachzug eine regelrechte Schande.
Kurz vor dem Brexit-Termin das Parlament auf "Stand by" zu setzen, machen wir uns nicht weiß: Das hat System. Zumal die Opposition kurz davor noch gemeinsame Initiativen angekündigt hatte, um einen No Deal zu verhindern.
Aber, nochmal der Reihe nach: Nach dem derzeitigen Stand gibt es eine Mehrheit im britischen Parlament gegen einen No Deal. Und doch will der Premier eben einen solchen No Deal jetzt forcieren. Auf der einen Seite also die gewählten Vertreter des Volkes. Und auf der anderen Seite ein Regierungschef, der nur dadurch legitimiert ist, dass lediglich die Mitglieder seiner Partei ihn mehrheitlich gewählt haben.
Die Zeitung Le Soir hat vollkommen recht: Dass Johnson die gewählten Volksvertreter mundtot macht, um eine Entscheidung durchzupeitschen, für die es im Parlament keine Mehrheit gibt, und ausgerechnet "im Namen des Volkes", bei einem solchen Vorgehen fehlen einem die Worte. Der Leitartikler von L'Echo sprach von "Staatsvandalismus". Das kommt der Sache wohl am nächsten.
Dahinter mag sich eine Strategie verbergen. Man hat dem platinblonden Populisten da schon so manchen Masterplan angedichtet. Einige glauben, Boris Johnson wolle sich eine unzweideutige Drohkulisse zimmern, um der EU klarzumachen, dass er es ernst meint, mit dem Ziel, sie damit zum Einknicken zu bringen. Eine Variante davon ist die sogenannte Madman-Theorie, die aus der Zeit von Richard Nixon stammt: Die besagt, dass man den Gegner davon überzeugen muss, dass der Präsident bzw. Premier unzurechnungsfähig ist und entsprechend wirklich zu allem in der Lage.
Andere sind der Ansicht, dass Johnson einzig Neuwahlen provozieren will, die er dann, so das Kalkül, mit fliegenden Fahnen gewinnen würde.
Mag sein. Mag alles sein. Vielleicht will hier einer tatsächlich eine Art Machiavelli 2.0-Strategie umsetzen. Aber das ändert nichts daran, dass der Preis zu hoch ist.
Denn: Was ist hier letztlich die Botschaft? Dass das Parlament nicht den Willen des Volkes repräsentiert. Ohne es ausdrücklich zu sagen, behandelt Johnson das ehrwürdige House of Commons wie eine simple "Quasselbude", die eben besagten angeblichen "Willen des Volkes" nicht respektiert.
Und mit dieser Grundhaltung ist er nicht allein; das zeichnet demagogische Scharlatane aus. Genau das gleiche Register zog in dieser Woche der italienische Rechtspopulist Matteo Salvini. Der hat sich schlichtweg verzockt: Indem er den Sturz der Regierung provozierte, wollte er eigentlich Neuwahlen erzwingen. Stattdessen aber bildeten zwei andere Parteien eine neue Koalition; Salvini darf jetzt also in der Opposition Platz nehmen. Seine Reaktion? Unter anderem eine Attacke auf das Parlament: "60 Millionen Italiener seien jetzt die Geiseln von 100 Parlamentariern".
Das Parlament zu diskreditieren, wenn es denn gerade nicht auf Linie ist, das ist nur ein Instrument aus dem Werkzeugkasten von Populisten und Autokraten. Attackiert werden systematisch auch andere Grundpfeiler einer Demokratie, allen voran die Justiz, die ja ach so "weltfremd" sei; freilich nur, wenn man gerade einen Prozess verloren hat.
Und auch sonstige externe "Spielverderber" werden von Demagogen regelmäßig an den Pranger gestellt: Internationale Ethik-Wächter, Menschenrechtler, und natürlich die Presse, die allesamt, wahlweise, "gekauft", "verblendet", "linksextrem" und sowieso "intrigant" sind...
Das alles im Namen des "Volkes", als gäbe es nur eins. Andersdenkende werden dann aber schnell und quasi folgerichtig - wie gerade in Großbritannien - zu "Verrätern", "Kollaborateuren" oder "Volksfeinden". Ihre scheinbare Legitimation schöpfen Populisten oft aus dem reinen Wahlergebnis: "Wir haben schließlich 800.000 Stimmen bekommen", hört man z.B. auch gerne vom rechtsextremen Vlaams Belang. Dabei wird die Demokratie bewusst auf ihren "arithmetischen Aspekt" reduziert.
Demokratie ist aber wesentlich mehr als das Prinzip "50 Prozent plus eine Stimme". Demokratie beinhaltet, grob gerafft, natürlich auch Institutionen, Rechtstaatlichkeit, Grundprinzipien -allen voran die Menschenrechte. Und, nicht vergessen, auch den Respekt der Minderheit gegenüber.
Nur: Welchen Platz haben in Großbritannien noch die 48 Prozent, die 2016 gegen den Brexit gestimmt haben? Ein No deal, das extremste aller Szenarios, das ist so ungefähr das krasse Gegenteil ihres Votums.
Boris Johnson's No Deal und die Art, wie er ihn erzwingen will, das hat nicht mehr sehr viel mit Demokratie zu tun. Und aus rein strategischen Erwägungen eine Institution wie das Parlament zu attackieren, und wenn man es nur kaltstellt, das ist nie unschuldig, sondern immer ein Angriff auf die Demokratie als solche. Das dürfen die Briten nicht durchgehen lassen! "Demokratien sterben leise", nicht zuletzt dann, wenn es nicht mehr genug Demokraten gibt.
Roger Pint
Herr Pint. Guter Kommentar.
Nur denke ich, dass die Populisten nicht die Ursache sind fuer die schwaechelnden Demokratien sondern eine "Begleiterscheinung". Die Gruende fuer die Demokratieschwaeche muss man bei der Demokratie selber suchen.
Um diese Systemkrise zu ueberwinden und um das Vertrauen der Bevoelkerung zurueckzugewinnen, muss man neues wagen wie mehr direkte Demokratie nach schweizer Vorbild. Das ist zwar kein Allheilmittel, aber eine zusaetzliche Demokratiesicherung. Und der Zugang zu politischen Aemtern muss auch erleichtert werden. Politik darf nicht nur eine Angelegenheit einer vorwiegend akademisch gebildeten Parteienelite sein.
Dieses Jahr sind es nun 30 Jahre her, dass der kommunistische Ostblock zusammen gebrochen ist, auch wegen einer Systemkrise. Das sollte doch zu denken geben. Und wenn sich die Parlamentarismus nicht weiterentwickelt und reformiert, wird er genauso gut hinwegvgefegt wie der altersschwache Kommunismus.
"Ein guter Diktator ist besser als eine schlechte Demokratie" ist zwar richtig, aber in der Realität nicht machbar! Es fehlt der Politik an Transparenz und Durchsetzungswillen, was aber schwierig wird wenn, wie in Belgien, viele verschiedene Parteien gemeinsam regieren müssen. Ich glaube man müsste über das Wahlsystem nachdenken... Entweder sollten sich verschiedene Parteien schon vor den Wahlen zusammen tun und ein Wahlprogramm präsentieren oder es sollten mehrere Wahlgänge stattfinden bis eine oder höchstens 2 Parteien zusammen eine Mehrheit bilden. So könnten die Wahlversprechen auch eingehalten werden und die Bevölkerung könnte sich ein besseres Urteil über die Arbeit der Politiker bilden!
„Ein guter Diktator ist besser als eine schlechte Demokratie“ ist zwar richtig, aber in der Realität nicht machbar!
Zum Glück nicht machbar, Herr Mausen! Es gibt gute und schlechte Demokratien, aber keine guten Diktatoren.
Was Sie zum Wahlverfahren vorschlagen, wäre ein zweiter Wahlgang, eine Stichwahl, so wie in Frankreich für die Wahl des Staatspräsidenten und für die Nationalversammlung..
Man könnte es auch wie in GB machen: das reine Mehrheitswahlrecht: der Kandidat, der in seinem Wahlkreis die Mehrheit (nicht unbedingt die absolute) gewonnen hat, ist gewählt. Alle anderen Parteien gehen leer aus.
Das garantierte früher in GB stabile Mehrheiten, aber auf Kosten der Demokratie, denn die Mehrheit der Sitze entsprach nicht immer der Mehrheit an Wählerstimmen ("Bei den Wahlen am 5. Mai 2005 führte dieser mehrheitsbildende Effekt beispielsweise dazu, dass die Labour Party 35 Prozent der Stimmen in 55 Prozent der Mandate verwandeln konnte").
Auf belgische Verhältnisse absolut nicht zu übertragen.