Nach dem Attentat von Lüttich bleibt für viele vor allem eine Frage offen: Wie konnte man einen Mann, der als gewalttätig, psychologisch instabil und auch als radikalisiert bekannt war, einfach so wieder in die Freiheit entlassen? Eine Frage, die weh tut, denn das Attentat und der Tod von drei Unschuldigen hätten wahrscheinlich verhindert werden können, wäre der Hafturlaub nicht genehmigt worden. Das haben sich viele Menschen in den letzten Tagen gedacht.
Warum hat der Bericht über die mögliche Radikalisierung von Benjamin Herman nicht diejenigen erreicht, die über den Hafturlaub entscheiden? Warum wird überhaupt ein Täter mit diesem Profil von heute auf morgen ohne Begleitmaßnahmen in die Freiheit entlassen?
Der Tweet von Justizminister Koen Geens, der Mann wäre bisher viele Male tageweise auf Hafturlaub gewesen, und da sei nie was passiert, ist hier absolut fehl am Platz. "Bisher ist nie was passiert", ist weder ein gutes Argument, noch ein Trost für die Freunde und Familien der Opfer. Dass Geens sich nach dem Debakel nicht zum Rücktritt entschloss, spricht Bände über die Stellung, die das Justizwesen in der belgischen Politik einnimmt.
Erstmal ist das Justizwesen strukturell unterfinanziert. Und das auf ganzer Linie. Es gibt zu wenig Geld für die Gerichte, für die Gefängnisse und auch für all das was danach kommt - oder zumindest kommen sollte. Dann ist es auch ein echtes Stiefkind, denn mit gut ausgestatteten Gefängnissen lassen sich keine Wähler fangen. Im Gegenteil: Man hat eher den Eindruck, dass für viele Menschen jeder Euro, der in den Strafvollzug fließt, ein Euro zu viel ist. Nicht umsonst will die Regierung das Justizbudget, das eh schon viel zu klein ist, nochmal um 20 Prozent kürzen.
Und während oben fleißig gespart wird, sind die Gefängnisse im Land hoffnungslos überbelegt. Haftstrafen unter einem Jahr werden oft gar nicht angetreten bzw. die Häftlinge bekommen eine Fußfessel und werden mehr oder weniger sich selbst überlassen. Wer ins Gefängnis muss, sieht sich mit menschenunwürdigen Bedingungen konfrontiert. Jedes Jahr gibt es alarmierende Berichte von Amnesty International über die Haftbedingungen in belgischen Gefängnissen.
Hygiene, medizinische Versorgung, psychologische Betreuung - es hapert überall. Ehemalige Gefangene erzählen, in Lantin laufen die Ratten über den Flur und die Klos in den Zellen sind nicht mal abgetrennt. Das war auch im einsturzgefährdeten Gefängnis von Verviers so, bevor es abgerissen wurde. Die Presse darf in solche Gebäude schon lange nicht mehr hinein. Höchstens ins neu gebaute Gefängnis in Marche-en-Famenne. Das ist ja auch ein Vorzeigeprojekt.
Bitte nicht falsch verstehen. Niemand fordert Luxus für Straftäter. Aber auch Gefangene haben ein Recht auf menschenwürdige Behandlung. Und die ist aktuell in vielen belgischen Gefängnissen nicht gewährleistet.
Unter den gegebenen Voraussetzungen muss man sich nicht wundern, dass Straftäter in Gefängnissen - platt gesagt - nicht zu besseren Menschen werden. Es ist oft kein Geld da, um die Insassen menschenwürdig zu behandeln. Wie soll dann Geld da sein, um während der Haft mit den Insassen zu arbeiten oder um einen Hafturlaub oder eine Wiedereingliederung nach Ende der Strafe anständig zu begleiten? Wer einmal im Gefängnis saß, hat zu rund 50 Prozent die Chance, wieder da zu landen. Eine Studie aus dem Jahr 2012 beweist das.
50 Prozent - einer von zwei Gefangenen. Das ist zu viel. Nicht nur, weil hier Menschenleben verschleudert werden, das kostet auch Geld. Das belgische Justizsystem füttert sich selbst, für viele Straftäter ist es ein Kreislauf. Das Geld, welches für diese Gefangenen ausgegeben wird, könnte man besser in Programme zur Wiedereingliederung investieren oder in Weiterbildungsmöglichkeiten im Gefängnis, damit die Leute nach der Haft wenigstens eine kleine Perspektive haben. Aber der politische Wille dazu fehlt. Nicht umsonst gibt es bisher gerade mal eine einzige Studie über Rückfallquoten, selbst erhebt der Staat dazu offiziell keine Zahlen.
Und leider müssen offensichtlich erst Menschen sterben, damit die öffentliche Meinung sich für diese Missstände interessiert. Die regelmäßigen Proteste der Gefängniswärter hätten eigentlich schon lange hellhörig machen sollen, haben sie aber nicht. Die Antwort auf die Frage vom Anfang - wie konnte man einen Mann, der als gewalttätig, psychologisch instabil und auch als radikalisiert bekannt war, einfach so wieder in die Freiheit entlassen - ist hier leider ziemlich einfach zu geben. Man konnte das, weil das Justizsystem seit Jahren unterfinanziert ist. Weil sich weder in der Politik noch in der Öffentlichkeit wirklich eine kritische Masse um das schert, was in unseren Gefängnissen passiert. Und weil unsere Gefängnisse heute im Grunde noch genau so funktionieren wie vor 300 Jahren.
Was ist also die Perspektive? Mehr Fälle wie in dieser Woche in Lüttich? Hoffentlich nicht. Der Strafvollzug, so wie wir ihn kennen, bietet heute keine Lösung mehr. Es reicht nicht, Leute wegzusperren und sie nach Ende der Strafe einfach wieder auf die Gesellschaft los zu lassen. Schon im Gefängnis braucht es Weiterbildung sowie soziale und psychologische Betreuung. Nur, wenn die Menschen nach Ende der Haft eine Möglichkeit haben, wieder in der Gesellschaft Fuß zu fassen, hat der Kampf gegen Radikalisierung eine Chance. Es geht um Perspektiven. Aber wenn die einzigen Perspektiven für solche Menschen sind, für eine neue Straftat ins Gefängnis zu kommen oder sich im Namen irgendeines Gottes umzubringen, dann gibt es wenig Hoffnung, dass sich eine Attacke wie diese Woche in Lüttich nicht wiederholt.
Anne Kelleter
Guter Kommentar Frau Keller. Volltreffer. Der Themenkomplex "Gefängnisse, Strafvollzug, Wiedereingliederung von Häftlingen" zeigt aufs Deutlichste, das Politik nicht ergebnisorientiert agiert sondern eher von Wunschvorstellungen geprägt ist. Mit dem Aufblaehen von Verwaltungen nach jeder Staatsreform kann man eher politisch Punkten in Belgien.
Der Mangel an Geld ist kein Grund, den Kopf hängen zu lassen. Gerade dann muss man kreative Ideen haben. Vielleicht wären PPP-projekte eine Lösung. Und die Unkosten der Gefängnisse könnten zum Teil reduziert werden, indem man Häftlinge unter streng definierten Bedingungen an Betriebe ausleiht. Dabei darf es nicht zu einer Konkurrenz mit Firmen auf dem freien Markt kommen. Vorstellen könnte man sich zum Beispiel eine Kleiderfabrik, die sonst nach Bangladesch gegangen wäre.
Sorry sollte eigentlich heissen "Frau Kelleter".
Gegenüber PPP, bzw ÖPP Projekten bin ich sehr skeptisch eingestellt.
Geben Sie doch mal bei Google
"public private partnership kritik" ein.
Im schlimmsten Fall kommen dabei Privatknäste wie in den USA raus, mit einer kompletten Industrie, die zur Folge hat, dass man umso mehr verdient, je mehr Menschen im Knast sitzen. An Resozialisierung denkt man da nicht wirklich. Und das wäre ja dann genau das Gegenteil, von dem, was man erreichen will.
Werter Herr Kerres
Man muss es ja nicht machen wie in den USA, man kann ja aus deren Erfahrungen lernen und es besser machen. Alles nur eine Frage der Organisation und des politischen Willens. Auf jeden Fall muss man sich um die Gefangenen kümmern, denn sonst macht eine Haftstrafe keinen Sinn.
Ein wirklich treffender Kommentar Frau Kelleter.
Aber auch das Problem religiöser Radikalisierung und Verblendung verdient einer tiefgreifenden Analyse und Kommentierung.
@MSE
Ich bin skeptisch, nicht völlig ablehnend. Man sollte halt nur sehr genau hinschauen, gerade bei so hochsensiblen Bereichen, wie der Justiz.
Aus den Fehlern anderer lernen ist wohl immer richtige Ansatz. Und auch besser, als den Fehler erst selber zu begehen und dann erst daraus zu lernen.