Hat er, oder hat er nicht? Ist er, oder ist er nicht? Die ganze Woche wurde darüber gestritten, ob der britische Filmemacher Ken Loach nun die Grenzen überschritten hat, ob er vielleicht ein Antisemit ist, ob er also mit der Ehrendoktorwürde der ULB ausgezeichnet werden darf, oder nicht. Das eigentlich Schlimme an der Sache ist aber, dass die Diskussion so geführt wurde, dass man das Wesentliche aus den Augen verloren hat.
Hier ging es nämlich letztlich nur um Begrifflichkeiten. Kritiker präsentierten Aussagen des Filmemachers, bei denen in der Tat die Alarmglocken schrillen müssen. Die Gegenseite gab derweil zu bedenken, dass streng genommen die Grenzen nicht überschritten wurden. Eine heillose Debatte, die an sich aber schon tief blicken lässt. Bezeichnend etwa, dass Loach kürzlich noch Aussagen "richtigstellen" musste, die doch verdächtig so klingen konnten, als stelle da einer den Holocaust infrage.
Hier geht es aber nicht darum, diesem Ken Loach den Prozess zu machen. Ohne die Fans des Regisseurs brüskieren zu wollen, aber so wichtig ist der Mann nun auch wieder nicht. Der Punkt ist: Er ist nicht alleine. Exakt die gleiche Diskussion wütet derzeit in Großbritannien, wo sich der Chef der oppositionellen Labour-Partei exakt denselben Vorwürfen ausgesetzt sieht. Dieser Jeremy Corbyn hat sich in letzter Zeit auch mehrmals erklären, korrigieren, entschuldigen müssen, weil einige seiner Aussagen beziehungsweise Aktionen als offen oder latent antisemitisch empfunden worden waren.
"Empfunden", das Wort suggeriert im ersten Moment, dass Antisemitismus im Auge des Betrachters liegt. Bleiben wir zunächst bei diesem Eindruck, denn der mag einiges erklären.
Beide Seiten hantieren hier gerne mit Opfermythen. In Israel etwa wird in gewissen Kreisen jegliche Kritik an der Politik des Staates Israel schnell als ein Ausdruck von Antisemitismus gebrandmarkt. Einen ähnlichen Reflex kann man auch in Deutschland erkennen, wo Kritik an Israel aus - zugegeben - nachvollziehbaren Gründen fast schon prinzipiell tabu ist. Eben diese Feststellung dient dann aber der anderen Seite als Argument, sich ebenfalls als Opfer zu stilisieren.
Beispiel Ken Loach oder Jeremy Corbyn, die übrigens eng befreundet sind: Beide engagieren sich für die Sache der Palästinenser. Und da ist - mitunter auch beißende - Kritik an der Politik des Staates Israel durchaus nachvollziehbar, legitim gar, wenn man sich vor Augen hält, dass Israel seit über 50 Jahren UN-Beschlüsse missachtet, konkret die Resolution 242, die den Rückzug Israels aus den besetzten Gebieten fordert. Demgegenüber wirkt die Siedlungspolitik im Westjordanland mindestens zynisch, andere würden sagen empörend.
Bei Leuten wie Loach oder Corbyn scheint diese Empörung aber manchmal paranoide Züge anzunehmen, etwa wenn sie ständig von "Zionisten" schwadronieren. Corbyn hat noch vor einigen Jahren offen Sympathien für die vom Iran unterstützte Hisbollah-Miliz bekundet. Erst kürzlich korrigierte er sich. Gibt es dafür Gegenwind, dann heißt es reflexartig: "Da haben wir's mal wieder: Kaum kritisiert man Israel, da wird man auch schon als Antisemit abgestempelt".
Opfermythen eben. Und die sind gefährlich, weil sie allein schon aufgrund des Opferstatus den trügerischen Umkehrschluss vorgaukeln, moralisch auf der richtigen Seite zu stehen. Für beide Seiten gilt aber: Vorsicht vor dem Selbstbetrug! Der Zweck heiligt nicht die Mittel. Und da mag man eine Sache für noch so gerecht, richtig und gut halten.
Konkret von den Israel-Kritikern in Europa gesprochen: Man kann sich für die palästinensische Sache einsetzen, engagieren, ja! Man darf Israel dafür aber nicht direkt oder indirekt das Existenzrecht absprechen, nicht uralte Klischees und Vorurteile wieder heraufbeschwören, nicht ein Jahrhundertverbrechen wie den Holocaust auch nur ansatzweise - und sei es zwischen den Zeilen - anzweifeln.
Die Debatte in dieser Woche über die Ehrendoktorwürde für Ken Loach, sie war Gift! Erst recht und vor allem, weil sie im Wesentlichen unter Akademikern geführt wurde, die sich bei der Gelegenheit wie lupenreine Sophisten aufgeführt haben. Und wo sich am Ende sogar noch der Premierminister als oberster Richter aufspielte, der dabei aber kaum verbergen konnte, dass er wohl eigentlich ganz niedere wahlstrategische Zwecke verfolgte.
Welcher Eindruck kann hier entstehen? Eben der, dass Antisemitismus ein "relativer" Begriff ist. Dass man notfalls nur ein paar Wörtchen verdrehen, präzisieren, korrigieren muss, um wieder auf der sicheren Seite zu stehen.
Und das geht überhaupt nicht! Nein! Antisemitismus, wie auch andere Formen von Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit, das ist eine Einstellung. Ob sich im vorliegenden Fall jemand den Schuh anziehen sollte, sei dahingestellt, aber hier muss eigentlich gelten: Im Zweifel gegen den Angeklagten! Oder gibt es noch nicht genug Warnsignale? Gibt es noch nicht genug gewaltsame Übergriffe auf jüdische Mitbürger? Vor etwas mehr als einem Monat starb Mireille Knoll. Die 85-Jährige hat den Holocaust überlebt - und wird in hohem Alter in Paris, in ihrer Wohnung das Opfer eines mutmaßlich antisemitisch motivierten Mordes.
Im Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit kann es nur klare Grenzen geben! Wie verblendet, wie weltfremd muss man sein, wenn man glaubt, dass Antisemitismus letztlich nur eine Frage von Begrifflichkeiten und Wortklaubereien ist?
Roger Pint