In den letzten Wochen und Monaten haben zwei große Sozialkonflikte von sich reden gemacht. Erst die Umstrukturierung bei Carrefour, dann das Ende von Opel-Antwerpen. Um das soziale Blutbad in Grenzen zu halten, wurde in beiden Fällen von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die betroffenen Arbeitnehmer in Frühpension zu schicken. Bei Carrefour gilt das für Mitarbeiter ab 52 Jahren, die Antwerpener Opelaner sollen gar ab 50 in den Vorruhestand gehen dürfen.
So viel vorweg: Es gibt mit Sicherheit tausend gute Gründe, Menschen, die 30, 35 Jahre in einem Unternehmen gearbeitet haben, um dann mit Anfang 50 wie ein Einwegtaschentuch weggeworfen zu werden, nicht im Regen stehen zu lassen. Es sei ihnen gegönnt, dass ihnen nicht noch so kurz vor ihrem Karriereende der Boden unter den Füßen wegbricht. Genau dafür gibt es ja die Frühpensionsregelung.
Dennoch: So geht es nicht, so kann es nicht gehen! Warum wohl setzen viele Nachbarländer, wie etwa die Niederlande oder Frankreich gerade eine Rentenreform auf die Schienen? In Holland sieht die immerhin eine schrittweise Erhöhung des Renteneinstiegsalters auf 67 Jahre vor, in Deutschland ist das schon beschlossene Sache. Laut EU müsste die Rente in Zukunft sogar erst ab 70 möglich sein. Ansonsten, Zitat, "drohe den Pensionskassen der Kollaps oder den Rentnern die Armut".
Und dann ist da Belgien, wo ohnehin nur noch rund einer von drei Menschen über 55 Jahren im Arbeitsleben steht. Und wo in der Zwischenzeit 50-Jährige – im Falle der Antwerpener Opelaner - sogar hochqualifizierte Menschen in den Vorruhestand geschickt werden sollen! Bei Carrefour liegt die Schwelle bei 52 Jahren.
Quasi zur gleichen Zeit kündigt die Supermarkt-Kette Colruyt die Schaffung von 3.000 Arbeitsplätzen an. Quasi zur gleichen Zeit suchen Volvo-Gent und Audi-Forest händeringend nach Fachkräften. Da ist doch was faul…!
Im Kabinett der zuständigen föderalen Arbeitsministerin Joëlle Milquet versteckt man sich hinter der Theorie. Erstens: Frühpension, das sei eigentlich das falsche Wort, laut Gesetz müssten sich diese Menschen bis zum Alter von 58 für den Arbeitsmarkt zur Verfügung halten. Und zweitens: Frühpension, das ist für den Staat immer noch billiger als Arbeitslosengeld, tatsächlich muss sich ja der Arbeitgeber an den Kosten für die Vorruhestandsregelung beteiligen.
Das erste Argument ist praxisfern. Für die übergroße Mehrheit ist Frühpension erwiesenermaßen gleichbedeutend mit dem definitiven Laufbahnende.
Und das zweite Argument ist fadenscheinig, eine Nebelgranate, weil wissentlich zu kurz gedacht. Erstens: Davon auszugehen, dass diese Menschen keinen Job mehr finden, ist ja schon ein viel sagendes Vorurteil. Und zweitens: Es geht doch nicht um die Kosten, die kurz- bis mittelfristig entstehen. Es geht um das System in seiner Gesamtheit und in diesem Zusammenhang um die Signalwirkung, mehr noch: Es ist eine Frage der Gerechtigkeit, der Generationsgerechtigkeit.
Es darf nicht soweit kommen, dass eine Generation irgendwann das Gefühl hat, ihr Leben lang für die Fehler ihrer Altvorderen zu bezahlen. Wer wissen will, was dann passiert, der muss nur nach Griechenland schauen.
Auf der einen Seite der junge Schulabgänger: Der kann sich heute schon an den fünf Fingern abzählen, dass er bis 70 arbeiten wird und dann eine Rente bekommt, die den Namen nicht verdient. Das ist keine Schwarzmalerei, das ist angesichts der demographischen und auch wirtschaftlichen Prognosen unabwendbar, quasi ein Naturgesetz.
Auf der anderen Seite wagt es niemand, den Bürgern eben diese Wahrheit zu sagen, zögert man die dringend notwendigen Reformen hinaus, verbannt man sogar 50-Jährige aufs Altenteil. Den Betroffenen sei es gegönnt. Doch ist das eigentlich nichts anderes als ein Beruhigungsmittel, das einem Todkranken verabreicht wird, ein Pflaster auf einem offenen Bruch.
Der drohende Rentengau, das ist nicht der Versuch, die Lottozahlen vorherzusagen, keine Wahrscheinlichkeit, sondern Gewissheit. Die Alterspyramide droht nicht zu kippen, sie ist schon dabei! Schon jetzt gibt es mehr Menschen über 65 als Kinder unter 15, mehr Menschen über, als unter 40. Da muss man doch kein Mathematiker sein, um zu erkennen, dass das System bald nicht mehr zu finanzieren ist, zumindest nicht so, wie bisher. Bei einer Staatsschuld von 100 Prozent des Bruttoinlandsproduktes und wohlwissend, dass die fetten Jahre erstmal vorüber sind, zwingen sich da auch keine Alternativen auf…
Wenn 50-Jährige zu alt sind für den Arbeitsmarkt, in einer Gesellschaft, deren Durchschnittsalter sich schon jetzt auf 40 beläuft, dann ist das System krank. Es geht nicht darum, die Carrefour-Mitarbeiter oder Opelaner ihrem Schicksal zu überlassen. Vielmehr muss alles getan werden, um sie im Arbeitsleben zu halten: Wenn 50-Jährige zu teuer sind, nun, dann muss das über die Steuerschraube korrigiert werden.
Anreize aller Art müssen her, auch, um zu verhindern, dass die Erfahrung von Arbeitnehmern im besten Alter achtlos zum Fenster hinaus geworfen wird. Das geht nur über eine grundlegende Reform des Arbeitsmarktes und des Rentensystems. Schnell! Und ohne Tabus! Wer glaubt, durch einen Aufschub der Rosskur entgehen zu können, der irrt sich gewaltig: Wenn das System kollabiert, dann gehen wir alle zusammen unter.
Frühpension, das ist jedenfalls nur vordergründig eine Soziale Begleitmaßnahme. Eigentlich ist eine solche Regelung ein vergiftetes Geschenk, nichts anderes als ein politisches und gesellschaftliches Armutszeugnis.