De Wever hatte drei Wochen lang im Rahmen einer Sondierungsmission Möglichkeiten zur Bildung einer neuen Koalition ausgelotet. Nach eigener Aussage hat er dabei Schnittmengen zwischen einzelnen Parteien ausgemacht, die allerdings noch nicht groß genug seien, um jetzt schon mit der Regierungsbildung zu beginnen.
Soweit die Fakten. Einzelheiten sind nicht bekannt. Dennoch ist bereits jetzt eine Schlussfolgerung erlaubt: Bislang wird jeder dem Ernst der Lage gerecht.
Es ist die Geschichte von zwei Männern, die nicht viel gemeinsam haben. Der eine legt Wert auf eine gewisse Eleganz, die Fliege ist sein Markenzeichen. Der andere verzichtet selbst bei einer Audienz im Palast auf eine Krawatte. Der eine ist schlank, ein Freund der gehobenen Küche.
Der andere ist übergewichtig, isst am liebsten in der Frittenbude um die Ecke. Der eine ist der Präsident der frankophonen Sozialisten PS, die für Stabilität stehen, eine möglichst breite gemeinsame Grundlage in diesem Land. Der andere ist der Vorsitzende der flämisch-nationalistischen N-VA, die das heutige Staatsgefüge aufbrechen und möglichst viele Zuständigkeiten an die Teilstaaten übertragen will.
Und doch vermitteln die beiden derzeit eher das Bild eines wohl verzahnten Tandems. Bislang saß De Wever am Lenker, Di Rupo hat aber kräftig mit in die Pedale getreten; jetzt werden die Plätze getauscht. Am Fahrziel wird sich dafür nichts ändern. "Wir sind uns darüber im Klaren, dass es unsere Pflicht ist, eine Regierung auf die Beine zu stellen", sagte Bart De Wever. Ein Scheitern sei keine Option, meinte sinngemäß auch Elio Di Rupo.
De Wever und Di Rupo: eine Schicksalsgemeinschaft wider Natur. Beide scheinen derzeit mit einer Stimme zu sprechen. Man könnte meinen, beide hätten ihre jeweiligen Redebeiträge gemeinsam verfasst. Die Ereignisse der letzten Tage sind ohne Zweifel eine Gemeinschaftsproduktion De Wever - Di Rupo.
Das Ganze folgte in gewisser Weise einem wohl kalkulierten Szenario, einer pragmatischen Logik: De Wever musste seine Arbeit abschließen. Das war eine Frage der Inszenierung. Es gab kein Treffen, kein Gespräch, keinen Anlass mehr, die Mission noch zu verlängern. Plötzlicher Stillstand in der De Wever-Ecke hätte gleich wieder für Rascheln im Blätterwald gesorgt, Krisengerüchte wären ins Kraut geschossen.
Also legt De Wever brav, wie geplant, seinen Abschlussbericht vor. Wohlwissend, dass die Zeit noch nicht reif ist, einen Regierungsbildner in die Arena zu schicken. Denn sollte eine solche Mission scheitern, dann ist die Dynamik dahin, dann brechen alte Wunden wieder auf, dann ist die Krise im Grunde unabwendbar.
Wie also die Zeit überbrücken? Eine heikle Frage; nicht umsonst hatte die Unterredung zwischen Elio Di Rupo und dem König drei Stunden gedauert. Denn: einige Tage ohne einen königlichen Gesandten gleich welcher Art, das war keine Option. Ein Vakuum hätte nur die Gerüchteküche befeuert. Jemand anderen als Di Rupo auf die Bühne zu schicken, wäre ebenfalls ein unglückliches Signal gewesen, nach dem Motto: Müssen jetzt schon wieder Altmeister reaktiviert, Ehrenrunden gedreht werden? Schlechte Außenwirkung, und zudem: Zeitverschwendung!
Der Palast besorgte schließlich den entscheidenden Kunstgriff, in Form einer Wortschöpfung. Ein "Prä-Regierungsbildner" wird aus dem Hut gezaubert. Typisch belgisch: Di Rupo wird im Wesentlichen die Arbeit eines Regierungsbildners machen, nur nennt man es einfach nicht so, um ihn und die Funktion nicht allzu sehr zu exponieren.
Di Rupo geht nächst Woche an die Arbeit. Und was De Wever vorgemacht hat, wird auch der PS-Chef konsequent praktizieren: absolute Diskretion, Funkstille. Nur das Nötigste wird kommuniziert: De Wever wollte nicht darlegen, wo er Fortschritte erzielt hatte, und hat sich dafür sogar dem Verdacht ausgesetzt, kläglich gescheitert zu sein.
Die Bestätigung für die Arbeit De Wevers lieferte erst der König, als er –eher überraschend- schon Di Rupo ins Feld schickte. Auch diese, für einen Politiker ungewöhnlich uneitele Haltung De Wevers hat System: es kann nur ein globales Abkommen geben; jeder Teilaspekt, den man -zudem halbgar- den Medien zum Fraß vorwirft, wird automatisch hysterisch diskutiert, nervös zerpflückt und dann mit Pauken und Trompeten abgeschossen. Das hat die Erfahrung von 2007 gezeigt.
Sommer 2007: genau dieses Gespenst ist es eben, das alle Protagonisten in ihren schlimmsten Albträumen immer wieder heimsucht. Vieles von dem, was derzeit zu beobachten ist, erklärt sich durch die Angst vor einem Remake des Debakels von vor 3 Jahren. Noch eine solche Krise, ein neues Val Duchesse, würde die politische Klasse in den kollektiven Nervenzusammenbruch und das Land an den Rand des Abgrunds treiben.
Deshalb auch diese fast schon zwanghafte Diskretion. Deshalb diese minutiöse Inszenierung der Ereignisse, um die Dynamik nicht abzutöten und das Gerüchte-Karussell nicht rotieren zu lassen. Deshalb dieser an die Grenzen der Selbstaufopferung gehende Pragmatismus. Wenn der Mensch auch erwiesenermaßen selten aus der Geschichte lernt: 2007 war möglicherweise ein letztlich heilsamer Schock.
Elio Di Rupo und Bart De Wever wissen genau, wie es nicht geht, und wissen das auch politisch umzusetzen. Nicht nur das verbindet sie. Beide wollen ihre politische Klasse, über die sie zweifelsohne verfügen, in Gold gießen. Der eine will Premier werden, der andere will da etwas erreichen, wo alle anderen versagt haben. Doch da gibt es noch eine "Konvergenz" zwischen beiden Männern: beide müssen am Ende das Gesicht wahren. Um es mit Bart De Wever zu sagen: "In cauda venenum": Im Schwanz steckt das Gift, der Teufel steckt im Detail.
Bislang macht das Tandem De Wever-Di Rupo alles richtig. Das ist jetzt schon mehr, als so mancher vielleicht befürchtet hatte; und mehr kann und darf man zum jetzigen Zeitpunkt auch nicht erwarten.
bild:belga