"État de grâce", sagt der Frankophone - frei übersetzt: "Zustand der Glückseligkeit". Charles Michel wird sich wohl noch lange an diese 30. Kalenderwoche des Jahres 2017 erinnern. Er, den man vor knapp drei Jahren noch als "Kamikaze-Piloten" tituliert hatte, er ist jetzt "auf Wolke sieben", wie eine Zeitung schrieb.
Gepokert und gewonnen. Als Charles Michel vor genau drei Jahren als Regierungsbildner damit begann, die heutige Koalition zu schmieden, da hatte man ihn noch für verrückt erklärt. "Eine Regierung mit nur der MR als frankophonem Partner, das kann nicht funktionieren", hieß es damals. Und tatsächlich: Die Konstellation war nach den eigentlich gängigen Politik-Mustern hoch riskant...
Drei Jahre später hat ihm die flämische Presse mal eben den Titel "Numero Uno" verpasst. Der letzte, der dieses Prädikat verliehen bekam, das war Altpremier Guy Verhofstadt, als der auf dem Höhepunkt seiner Macht war.
"Numero Uno", weil Charles Michel sich vom vermeintlichen Bruchpiloten zum Luftakrobaten gemausert hat. Seine bis vor Kurzem noch heillos zerstrittene Regierung hat der Premier offensichtlich auf Linie trimmen können. Herausgekommen ist ein Abkommen, das man der Equipe wohl nicht mehr zugetraut hatte. Der Haushalt: soweit rund, wobei man den doch eigentlich erst im Oktober hätte vorlegen müssen. Und dann, obendrauf, noch eine ganze Latte von Strukturreformen, inklusive der lang erwarteten Reform der Körperschaftssteuer. Und das in einem Moment, wo frühere Regierungen schon in den Ferien waren. Wow! Der Coup ist dem Premier durchaus gelungen.
Und dann fällt ihm und seiner Partei dann auch noch in der Wallonie die Macht in den Schoß. Und zwar buchstäblich. Die MR hat das zugegebenermaßen nicht gerade moralisch saubere Geschenk angenommen, das ihr die CDH serviert hat. Willy Borsus, der wallonische Haudegen, ist jetzt der neue Ministerpräsident. Hätte man den Blauen in Kalenderwoche 20 gesagt, was sie in Kalenderwoche 30 erleben würden, sie hätten es wohl nicht geglaubt. Allerdings: In beiden Fällen, föderal wie regional, muss sich das scheinbar Erreichte erst noch in der Praxis bewähren.
Zunächst zu Charles Michel und seinem Sommerabkommen. Erstmal gibt es da längst nicht nur positive Echos. Die Gewerkschaften etwa versprechen schon einen heißen Herbst. Sie können die versprochene Steuergerechtigkeit nicht finden. Für sie muss immer noch der "kleine Mann" die Hauptlast tragen, werden die Arbeitgeber, das Kapital, immer noch klar bevorteilt. Außerdem sorgen die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und auch die Abschaffung des Kündigungsschutzes für Beamte für deutlich hörbares Zähneknirschen.
Doch auch die Unternehmerseite ist unzufrieden. Zwar bekommt sie eine spürbare Senkung der Körperschaftssteuer, die geplante Abgabe auf Wertpapierdepots ist aber für belgische Verhältnisse ein Tabubruch. Hier wird nämlich nicht ein gleichwie geartetes Einkommen besteuert - im vorliegenden Fall etwa in Form von Renditen-, sondern das Kapital an sich. Für eine Mitte-Rechts-Regierung ist das - zwischen Klammern gesagt - übrigens durchaus bemerkenswert, dass man eben diese Heilige Kuh geschlachtet hat.
Das eigentliche Problem bei alledem ist aber die Gegenfinanzierung. Da bleiben Michel und seine Minister vage, zu vage, sagen Fachleute. Wie schon beim Taxshift hat man irgendwie den Eindruck, dass es da noch ein dickes Ende geben könnte, eine Rechnung in Milliardenhöhe. Die Regierung scheint allein auf die positiven Folgeerscheinungen zu setzen, die etwa die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen mit sich bringen würde. Nur bleibt das, zumindest teilweise, im wahrsten Sinne des Wortes "Spekulation".
Und auch auf wallonischer Ebene reicht es nicht, ein Koalitionsabkommen vorzulegen und einen Amtseid abzulegen. Nein! Die Koalition aus MR und CDH wird jetzt in Rekordzeit liefern müssen. Brutto hat man zwei Jahr Zeit dafür. De facto bleiben netto vielleicht 15 bis 18 Monate, in denen seriöse Arbeit möglich ist. Im nächsten Jahr stehen Kommunalwahlen an. Anfang 2019 beginnt dann schon der Wahlkampf für die Superwahl im Mai oder Juni. Nicht viel Zeit, um nachhaltige und sichtbare Ergebnisse zu produzieren...
Föderal wie regional hat man also allenfalls einen ersten Schritt getan, einen enorm wichtigen, klar, einen vielleicht beeindruckenden, in der Wallonie sogar historischen, aber immer nur einen ersten Schritt. Die Gefahr ist gegeben, dass sich das Ganze am Ende als Schlag ins Wasser erweist, schlimmstenfalls sogar als Rohrkrepierer.
Sollten aber halbwegs vernünftige Ergebnisse folgen, dann kann sich eben diese 30. Kalenderwoche 2017 am Ende für die Liberalen als Scheitelpunkt erweisen. Bewährt sich die Achse aus Liberalen und Zentrumsparteien, und wird das auch vom Wähler honoriert, dann wäre das die Blaupause für die nächsten Regierungen ab 2019. Und dann wäre Charles Michel wohl auch ein glaubwürdiger Kandidat für seine eigene Nachfolge.
Ein Pokerspiel mit zwei möglichen Ausgängen also: Entweder ist das blaue Doppelhaus mit der hübschen Fassade, das in dieser Woche errichtet wurde, nur auf Sand gebaut, oder eben, Michel und seine Liberalen haben in dieser Woche eine Option auf die Zukunft gezogen.
Roger Pint - Bild: Achim Nelles/BRF