Seit Anfang der Woche ist N-VA-Chef Bart De Wever mit dem ihm vom König anvertrauten Informationsauftrag im Hinblick auf die Bildung einer neuen Regierung beschäftigt. Zwar liegt das Ziel noch in weiter Ferne, aber in den letzten Tagen macht sich in politischen Kreisen zunehmend Optimismus breit, dass De Wever es schaffen könnte.
Als der Christlichsoziale Yves Leterme sich vor drei Jahren als großer Wahlsieger an die Regierungsbildung machte und bei den Verhandlungen den politischen Dauerbrenner BHV und die Staatsreform auf den Tisch legte, bekam er von frankophoner Seite ein permanentes Nein zu hören. So weit wie er - und die Flamen im allgemeinen - bei der weiteren Regionalisierung Belgiens gehen wollten, dazu war kein Wallone bereit.
Schließlich kam zwar eine Regierung zustande, doch sie wurstelte sich mehr schlecht als recht durch drei Krisenjahre, bis es im vergangenen April endgültig krachte und Neuwahlen der letzte Ausweg waren. Diese wurden eindeutig von zwei Parteien gewonnen, deren Programme gegensätzlicher kaum sein könnten: Von der nationalistischen N-VA in Flandern und den Sozialisten im französischsprachigen Belgien.
Nun soll um diese Achse eine neue Regierung gebildet werden, wobei als "Informateur" derzeitig N-VA-Chef Bart De Wever die Fäden zieht. Alle, die im Rahmen dieser Mission bisher mit ihm zusammentrafen, sind positiv beindruckt. De Wever wird es schaffen, so hört man in diesen Tagen immer wieder. Für Belgien wäre dies sicherlich eine gute Sache, doch wie ist es möglich, dass ein Mann, dessen Partei die flämische Unabhängigkeit als oberstes Ziel verfolgt, und der in Sachen Staatsreform noch deutlich weiter geht als alle bisherigen flämischen Forderungen, dass gerade dieser De Wever es schaffen soll, eine neue belgische Regierung auf den Weg zu bringen.
Das ist in der Tat schwer zu verstehen, doch bei genauem Hinschauen erkennt man für diesen Umschwung durchaus einige Gründe. Der erste und wichtigste ist wohl der, dass sich die frankophone Haltung bezüglich der Staatsreform grundlegend geändert hat. Inzwischen sehen auch die Französischsprachigen die Notwendigkeit einer größeren Eigenständigkeit der Regionen und Gemeinschaften ein. Hätten sie die gleiche Haltung schon vor drei Jahren gegenüber Leterme an den Tag gelegt, wären BHV und Staatsreform, die das Land bis in seine Grundfesten erschüttert haben, längst abgehakt. Und warum sind sie Frankophonen plötzlich so konziliant?
Zunächst haben sie zweifellos gemerkt, dass es den Flamen mit der Spaltung des Wahlbezirks Brüssel-Halle-Vilvoorde und der Staatsreform so ernst ist, dass sie in letzter Instanz, sollten sie ihr Ziel nicht erreichen, Belgien über die Klinge springen lassen würden. Das Wahlergebnis spricht in dieser Hinsicht Bände: Deutlich mehr als 40 Prozent der Flamen, also fast jeder zweite, gaben ihre Stimme einer nationalistischen Partei, das heißt der N-VA, dem Vlaams Belang oder der Liste Dedecker, drei Parteien, die allein durch die frankophone Opposition gegen die Staatsreform so groß geworden sind, dass sie jetzt den Fortbestand des Landes in Gefahr bringen.
Diese Erkenntnis dürfte im Süden des Landes den heilsamen Schock vom ständigen Nein zu einer wohlmeinenden Verhandlungsbereitschaft über Flanderns Forderungen ausgelöst haben. Im Übrigen sind die Wallonen sich wohl dessen bewusst geworden, dass ein De Wever sich, im Gegensatz zu den gemäßigten Flamen, kaum etwas aus einem Scheiten der Verhandlungen machen würde. Er ist der erste, mit dem sie es auf flämischer Seite zu tun haben, dem es egal ist, wenn Belgien morgen in die Luft fliegt. Auch das dürfte zum frankophonen Sinneswandel nicht unerheblich beigetragen haben.
Und schließlich gibt es da noch den großen wallonischen Wahlsieger, PS-Chef Elio Di Rupo. Er wäre seit 37 Jahren der erste frankophone Premierminister. Dafür hat er in der Vergangenheit alles getan, und jetzt ist er genau diesem Ziel so nahe wie nie zuvor. De Wever hat nämlich deutlich gesagt, dass er am Posten des Regierungschefs nicht interessiert ist, und er gegen einen Premierminister Di Rupo nichts einzuwenden hätte.
Wenn nicht jetzt, wann dann? - wird Di Rupo sich sagen und für dieses politische Lebensziel dürfte der PS-Parteipräsident auch mal ein Auge zudrücken, wenn De Wever ihm die flämische Wunschliste vorlegt. Wenn dieser es dabei nicht überteibt, indem er zum Beispiel die Solidarität in der sozialen Sicherheit in Frage stellt, dann könnte es in einigen Wochen mit Di Rupo und De Wever ein "Ende gut - alles gut" geben. Und wenn nicht, dann hat Belgien ein Problem, und zwar in sehr großes. Vielleicht sogar ein unlösbares.