"Ist der Plan der Terroristen aufgegangen?", fragte sich am Mittwoch schon De Standaard auf seiner Titelseite. Die Frage ist berechtigt, und das gerade nach einer Woche wie dieser.
In den letzten Tagen konnte es sich fast so anfühlen, als hätten Terroristen ein zweites Mal in Belgien zugeschlagen. Auf allen Kanälen liefen wieder die schrecklichen Bilder. Bilder von leblosen Körpern, von Menschen, die fürchterliche Verletzungen davongetragen haben. Bilder von der Abflughalle des Brussels Airport, die sich innerhalb von Sekunden in die Hölle verwandelt hatte. Bilder aus der Metrostation Maelbeek, wo die Menschen, die noch gehen konnten, durch den dunklen U-Bahn-Tunnel taumeln.
Es war, als hätte man eine schaurige Zeitreise unternommen, einen Horrortrip 12 Monate zurück. Was schon für den unbeteiligten Zuschauer gilt, wie muss sich das dann für die Betroffenen angefühlt haben? Die Überlebenden, die das Grauen buchstäblich am eigenen Leib erfahren haben, die ohnehin durch die Folgen ihrer mitunter schweren Verletzungen täglich an diesen unseligen Tag erinnert werden, die sich vielleicht bis heute die Frage stellen, warum gerade sie überlebt haben. Nicht zu vergessen: Der Schmerz der Angehörigen, die einen geliebten Menschen verloren haben.
Aber eben für diese Menschen musste es den vergangenen Mittwoch geben, eben ihnen zu Ehren war es mehr als nur eine moralische Pflicht, sich zu erinnern, innezuhalten, der Opfer der gleichermaßen feigen, blinden und brutalen Anschläge zu gedenken.
Und Belgien hat da den richtigen Ton gefunden, das muss man ganz klar sagen. Im Mittelpunkt der drei Gedenkfeiern standen fast ausschließlich die Opfer und Angehörigen. Es gab keine einzige Politikerrede. Neben den Betroffenen und Vertretern der Rettungsdienste ergriff allein der König das Wort. Die ebenso emotionalen wie würdevollen Zeremonien waren im wahrsten Sinne des Wortes beeindruckend, mehr noch: berührend, zugleich eine Katharsis, eine Form von Trauma-Bewältigung, in erster Linie für die Betroffenen, aber auch für die Gesellschaft insgesamt.
Was leider nicht heißt, dass keinerlei Narben zurückbleiben werden. Keiner der direkt Betroffenen wird diesen verfluchten 22. März 2016 jemals vergessen, vergessen können. Was mit Sicherheit für die Überlebenden und Angehörigen gilt, das gilt aber in gewisser Weise für uns alle. Wenn sich vielleicht nicht unser Leben verändert hat, unser Denken sehr wohl. Tief in unseren Köpfen wurden die Keime der Angst eingepflanzt; und die Saat geht auf.
Erst recht, wenn sich eben am Tag des Gedenkens an die Opfer des 22. März ein neuer 22. März ereignet. Genau in dem Moment, wo Belgien versucht, Schock und Trauer zu verarbeiten, spielt sich in London ein neues Drama ab, werden wieder Menschen getötet und verletzt, Familien ins Unglück gestürzt. Es ist, als habe man versucht, das Schreckgespenst durch die Tür nach draußen zu befördern, und dann kommt es durchs Fenster wieder 'rein. Aus belgischer Sicht war London auch ein schauderhafter Weckruf, nach dem Motto: "Wir sind noch da...!".
Und da ist es nachvollziehbar, dass in der Bevölkerung und auch bei den Sicherheitskräften bei jedem außergewöhnlichen Zwischenfall gleich die Nerven blank liegen. Der Höllenritt eines betrunkenen Franko-Tunesiers durch die Antwerpener Innenstadt ist dafür ein gutes Beispiel. Klar: Wenn einer mit vollem Tempo durch eine belebte Einkaufsstraße brettert, dabei Verletzte mindestens in Kauf nimmt, und der dann auch noch Waffen im Kofferraum hat, dann ist das mit Sicherheit kein Kinkerlitzchen.
So einer gehört bestraft, keine Frage. Nach einem versuchten Terroranschlag will diese Geschichte aber nach wie vor nicht aussehen. Allein die Tatsache, dass die Vermutung im Raum stand, reicht aber, um dafür zu sorgen, dass sich die Angst langsam zur Psychose wandelt. Bei all dem ist es übrigens wenig hilfreich, wenn Politiker wie Bart De Wever dann völlig übereilt und gegen den ausdrücklichen Willen der Justizbehörden Pressekonferenzen einberufen, und dabei ein Gefühl von Ausnahmezustand vermitteln. Dem Chefzyniker von der Schelde ist offensichtlich jedes Mittel recht, um vermeintliche Beweise für seine Thesen und die Richtigkeit seiner Vorschläge zu liefern.
Auch hier zeigt sich: Die letztlich entscheidende Frage ist, wie wir mit unserer Angst umgehen, nicht nur wir, sondern im Umkehrschluss dann auch unsere Politiker. Bestimmt die Angst die Agenda, dann wächst das Misstrauen dem vermeintlich "Anderen" gegenüber, dann werden die Gräben nur noch tiefer, dann verwandelt sich die Angst am Ende in Hass. Und, so abgedroschen die Phrase auch klingen mag, aber dann, und nur dann, haben die Terroristen wirklich gewonnen.
Roger Pint - Bild: Achim Nelles/BRF