Er habe die emotionale Wirkung der Umstrukturierungspläne unterschätzt, sagte Rik Vandenberghe, Belgien-Chef von ING, in der Kammer. Selbiger Spitzenmanager hatte just bevor er den Stellenabbau am Montag verkündete, erklärt, er habe schlecht geschlafen. Den Vogel abgeschossen hatte aber ING-Hauptgeschäftsführer Ralph Hamers in den Niederlanden. Er begründete die geplanten Entlassungen Tausender Mitarbeiter doch tatsächlich damit, dass man das Dach reparieren müsse, wenn die Sonne scheint. Will heißen: Trotz derzeitiger Gewinne in Milliardenhöhe muss ING radikal saniert werden.
In welcher Welt leben diese Menschen eigentlich? Hat ihr Posten in der Chefetage sie völlig blind gemacht für die Realität der einfachen Angestellten? Ein wenig mehr Empathie hätte nicht geschadet.
Nun zum Inhalt. Di-gi-ta-li-sie-rung heißt das Zauberwort, mit dem ING die massiven Umbaupläne rechtfertigt. Natürlich sollte ein Finanzhaus sich ernsthaft auf die Zukunft vorbereiten. Natürlich bilden das Online-Geschäft und die vielen, zum Teil noch unbekannten Aufgabenfelder von morgen eine echte Herausforderung. Und natürlich sorgen strengere Regeln der Bankenaufsicht sowie die anhaltend niedrigen Zinsen für zusätzlichen Druck.
Aber warum zum Teufel hat die Bank den Wandel denn nicht schon viel früher eingeleitet? Warum hat sie nicht zumindest einen Bruchteil der Milliardengewinne der vergangenen Jahre auf die hohe Kante gelegt, um die Umbaumaßnahmen vorzubereiten? Sich plötzlich von mehr als 3.000 Mitarbeitern in Belgien trennen zu wollen - also von mehr als jedem dritten ING-Beschäftigten - das ist alles andere als glaubwürdig. Die Digitalisierung fällt schließlich nicht vom Himmel.
An dieser Stelle ein kleiner Zwischengedanke: Wer war es denn, der die Kunden regelrecht dazu gedrängt hat, nicht mehr das Schalterpersonal in der Zweigstelle um die Ecke aufzusuchen, sondern seine Bankgeschäfte lieber am Automaten und heute vom Sofa aus zu machen? Richtig: die Banken. Und wer führt genau das jetzt als Argument an, um viele Filialen dicht zu machen? Wieder die Banken.
Im Fall ING zeigt sich aber auch, wie wichtig es ist, Entscheidungshebel im eigenen Land zu haben. Zwar wäre eine rein belgische ING den selben Schwierigkeiten und Marktumständen wie die niederländische Bankengruppe ausgesetzt. Wetten, die Entlassungswelle wäre bei einem belgischen Finanzhaus aber kleiner ausgefallen? Klar ist es gut, dass Belgien eine offene Wirtschaft ist und es wie kaum ein anderes Land in der Welt zulässt, dass hier der Markt spielt. Aber ein ganz klein bisschen mehr wirtschaftlicher Patriotismus würde nicht schaden.
Auf den Sparkonten der Belgier schlummern mehr als 260 Milliarden Euro. Totes Kapital, denn angesichts von Mini-Zinsen und Inflation verliert das Geld jeden Tag streng genommen sogar an Wert. Deswegen sollten sich belgische Investoren und die Regierung schleunigst etwas einfallen lassen, um diesen Reichtum zu mobilisieren. Eine Art Volksanleihe, um innovativen Unternehmen hierzulande unter die Arme zu greifen oder nachhaltige Infrastrukturprojekte auf die Beine zu stellen. Die vierprozentige Rendite, die der flämische Stromnetzverwalter Eandis den chinesischen Investoren zahlen wollte, hätte er ebenso gut hiesigen Kleinaktionären anbieten können. Darüber hinaus könnten wir durch diese Maßnahme sogar Wirtschaftswachstum generieren.
Die blutige Nase, die ING sich diese Woche geholt hat, lässt andere Großbanken hoffentlich aufhorchen. Damit sie ihre ihre Umstrukturierungspläne zumindest noch einmal überdenken.
Alain Kniebs - Foto: Achim Nelles/BRF