Nach wie vor fehlen die Worte angesichts des Doppelmordes in einem Brüsseler Friedensgericht. Mitten im Gerichtssaal hatte am Donnerstag ein Mann eine Waffe gezogen und eine Friedensrichterin sowie einen Gerichtsbeamten buchstäblich exekutiert. Damit stellt sich auch auf tragische Weise die Frage nach der Sicherheit in den Gerichtssälen des Landes wieder neu.
Doch muss dabei gelten: Was für Straf- oder Schwurgerichte unabdingbar ist, nämlich angemessene Bewachung und Sicherheitsvorkehrungen, kann und darf nicht "eins zu eins" auf Friedensgerichte angewandt werden.
Das ist ein tragischer Tag für unsere Justiz, aber auch für unsere Gesellschaft insgesamt. Besser konnte es Justizminister Stefaan De Clerck nicht auf den Punkt bringen.
Zwar handelte der mutmaßliche Täter vordergründig aus niederen Beweggründen: Rache war offenbar sein Motiv. Doch hat er mit seiner Tat zugleich einen Anschlag auf die Justiz verübt, die dritte Gewalt im Staat. Dass eine Magistratin und ein Gerichtsbeamter mitten im Gerichtssaal und in Ausübung ihrer Pflicht das Opfer einer Bluttat werden, ist ein inakzeptabler, ein empörender, ein Abscheu erregender Angriff auf die Institution an sich.
Und das ausgerechnet auch noch in einem Gericht - allein der Name wird durch den Doppelmord ja schon buchstäblich vergewaltigt. Mission dieser Gerichte ist es doch, zu schlichten, Frieden zu stiften, Versöhnung herbeizuführen.
Es ist eine Attacke auf den Rechtsstaat und seine Vertreter, damit aber auch auf die Gesellschaft insgesamt, auf uns alle. Das Allerheiligste wurde geschändet. Nichts desto trotz, oder besser: Gerade deshalb gilt es jetzt, Überreaktionen zu vermeiden, um nicht alles noch schlimmer zu machen.
Sicher, man könnte meinen, die Tragödie kommt mit Ansage: Magistrate und Anwälte beklagen schon seit Jahren die laxen beziehungsweise inexistenten Sicherheitsvorkehrungen in vielen Justizgebäuden. Erst im Sommer vergangenen Jahres waren ja noch zwei bewaffnete Männer "einfach so" in einen Sitzungssaal im Brüsseler Justizpalast spaziert, um drei Komplizen zu befreien. Muss es denn erst Tote geben, bis sich etwas bewegt? hörte man in vielen Justizpalästen.
Jetzt hat sich dieser Kassandra-Ruf tragischerweise bewahrheitet - könnte man meinen, denn das stimmt nur auf den ersten Blick! Dass die Sicherheitsvorkehrungen bei Strafprozessen oder an Schwurgerichten zu hundert Prozent gewährleistet sein müssen, das hat man nämlich spätestens nach der spektakulären Befreiungsaktion vom August letzten Jahres verstanden – besser spät, als nie. Die entsprechenden Anstrengungen liefen auf Hochtouren, machte auch der Justizminister noch einmal klar.
Im vorliegenden Fall geht es aber um die Friedensgerichte. Und das ist ein himmelweiter Unterschied. Nicht nur, dass es deren 250 in diesem Land gibt - all diese Gebäude in Hochsicherheitstrakte zu verwandeln, ist schlichtweg utopisch. Hinzu kommt: Friedensrichter haben es in aller Regel nicht mit schweren Jungs zu tun. Ganz im Gegenteil. Friedensgerichte sind vielmehr die Schlichtungsinstanz in Alltagsfragen, hier geht es etwa um Nachbarschaftsstreitigkeiten, also wenn der Apfelbaum des einen seine Früchte im Garten des anderen entsorgt. Hier sucht die Justiz bewusst und direkt die Nähe zum Bürger. Hier äußert sich die vornehmste Mission der Justiz in Reinform – also im weitesten Sinne das Regeln unseres Zusammenlebens – ganz konkret, ganz praktisch.
Es wäre ein Fehler, diese Gerichtsbarkeit hinter Mauern und Zäunen zu verbarrikadieren. Es wäre ein Fehler, zwischen dem Friedensrichter und den Parteien einen bewaffneten Polizisten zu postieren. Die Friedensgerichte würden damit ihrer Seele beraubt. Nichts anderes sagte auch Justizminister Stefaan De Clerck, und dazu gehört Mut: Knapp eine Woche vor der Wahl hätte so mancher der Versuchung nicht widerstehen können, eine knallharte Reaktion zu versprechen, eine sekuritäre Generalmobilmachung. Zumindest De Clerck hat auf dieses unwürdige Schauspiel auf dem Rücken der Opfer verzichtet.
Das soll ja nicht heißen, dass der Doppelmord im Friedensgericht keinerlei Konsequenzen haben muss. Zweifellos sollte ein Mindestmaß an Sicherheitsvorkehrungen garantiert werden - und wenn es nur ein Metalldetektor ist. Eben weil die Justiz selbst auf der niedrigsten Ebene stellvertretend für unseren Rechtsstaat steht, gehört sie auch entsprechend geschützt.
Aber eben mit Augenmaß. Denn hier geht es wieder einmal um die Frage, in welcher Welt wir künftig leben wollen. Es ist wohl nicht von der Hand zu weisen, dass – nach Ländern wie Schweden oder Holland - auch die Gesellschaft in Belgien in den letzten Jahren ihre Unschuld verloren hat. Es ist eine offene Gesellschaft, in der ein Premierminister nach wie vor in einem Brüsseler Park alleine und ohne Personenschutz seinen Hund ausführen kann, in der man eben nicht gleich immer mit dem Schlimmsten rechnen muss beziehungsweise will.
Das ist nicht zwingend Ausdruck von Nonchalance, Laxheit oder fauler Inkompetenz – naja, vielleicht manchmal, es hat auch etwas von einem Lebensgefühl. Ereignisse wie der Mord an Joe Van Holsbeek oder der Amoklauf von Dendermonde und jetzt eben auch die tödlichen Schüsse in einem Friedensgericht haben uns allerdings in gewisser Weise die Grenzen aufgezeigt: Belgien ist eben keine Insel.
Doch bleiben das – so bedauerlich sie auch sind - Einzelfälle. Nichts und niemand, auch nicht die Allgegenwart von Polizei und Überwachungskameras kann verhindern, dass ein Mensch durchdreht und um sich schießt. Und es wäre fatal, wenn jetzt der Doppelmord in einem Friedensgericht mit einem Mal alles in Frage stellen würde, woran man bislang geglaubt hat. Es wäre ein hoher Preis für den Traum von der absoluten Sicherheit - denn mehr als ein Traum ist es nicht und wird es nie sein.
brf
http://brf.be/nachrichten/kommentar/101443
Sehr geehrter Herr Pint,
in D ist der Fall auf großes Interesse gestoßen, da zunächst verbreitet wurde, es handele sich um einen Racheakt in einem Sorgerechtsentscheid bzw. einer Wegweisung nach Gewaltvorwurf. Können Sie Quellen nennen, wo näheres darüber zu erfahren ist?
MfG