Wenn man den Palais Monnaie auf dem Gelände von Tour et Taxis betritt, erwarten einen Fahnen wie bei einem europäischen Gipfel, der ja in der Regel nur wenige Kilometer Luftlinie entfernt im Europaviertel der belgischen Hauptstadt stattfindet. Die Besucher bekommen einen Flyer in die Hand gedrückt mit der Information, dass es um die römische Union und das Königreich Pontus geht. An diesem Tag treffen sich die Staatsführer, da einer ihrer Kollegen die Spielregeln der europäischen Institutionen in Frage stellt. Krisengipfel nennt man so etwas, und deren haben wir in den letzten Jahren mehrmals erlebt.
Was hat das nun mit einer Oper zu tun, die der damals 14-jährige Wolfgang Amadeus Mozart ausgehend von einem Drama Racines komponierte und die im Jahre 67 vor Christus in Vorderasien spielt? Jean-Philippe Clarac und Olivier Deloeuil gelingt es, die Handlung in unsere Zeit zu übertragen, sie zu aktualisieren ohne sie zu verraten oder sie krampfhaft auf eine andere Ebene zu heben. Nein, sie schaffen intelligentes und vor allem in seiner Logik nachvollziehbares Musiktheater. Sie waren übrigens dank eines Wettbewerbs zu diesem Auftrag gekommen. La Monnaie wollte ursprünglich die Robert-Carsen-Inszenierung aus dem Jahr 2007 wieder auf die Bühne bringen, nur war eben diese im Palais Monnaie, der Ausweichspielstätte der Brüsseler Oper zu klein und es musste ein anderes Konzept her. Die beiden Franzosen setzten sich mit ihrer Idee gegen über 100 weitere Kandidaten durch. Und besser hätte die Wahl der Jury nicht sein können.
Worum geht es eigentlich in dieser Oper? Um Macht, Vertrauen, Treue zum eigenen Vater und Vaterland, um Liebe. Mitridate, der König von Pontus, lässt die Nachricht von seinem Tod verbreiten. So möchte er seine Söhne Sifare und Farnace auf die Probe stellen. Die beiden Brüder sind politisch unterschiedlicher Meinung: Farnace will gemeinsam mit den Römern das Königreich Pontus neu ordnen, Sifare hingegen den Kampf Mitridates gegen die Römer fortsetzen. Nicht genug damit, die Brüder sind auch noch beide in die schöne Griechin Aspasia verliebt, die schon die Verlobte des Vaters war.
Aber Mitridate hat seinen Tod nur inszeniert. Er lebt und daraus entwickelt sich das dramatische und wie sich hier zeigt auch zeitlos spannende Spiel. Moral der Geschichte: Wir brauchen ein gemeinsames Europa, aber auch seine Vielseitigkeit.
Während der Ouvertüre erscheint auf den im ganzen Saal verteilten Bildschirmen die Meldung vom Tod Mitridates, dazu gibt es stumm geschaltet die Statements der europäischen Politik: Merkel, Hollande, Cameron und so weiter sind kurz zu sehen, aber das bleibt die einzige konkrete Anspielung, alles weitere ist wesentlich differenzierter, aber in Details dann doch in der ganzen Aktualität erkennbar. Das ist eine der Stärken dieser Inszenierung. Der Einsatz der Videos ist für einmal auch nicht verwirrend oder gar störend, seien es die regelmäßigen Breaking News, der live übertragene triumphale Einzug Mitridates in das Kongresszentrum sprich in den Saal, die gelegentlichen Großaufnahmen oder die Berichterstattung der Pressemeute, die ja bei keinem politischen Gipfel fehlen darf und die sich die Politiker auch gerne zu eigen macht.
Doch was wäre ein noch so guter Regieeinfall und dessen kongeniale Umsetzung ohne ein entsprechendes Sängerensemble. Da wartet La Monnaie mit einer Besetzung auf, die fast keine Wünsche offen lässt. Allen voran Michael Spyres in der Titelrolle. Mit voller klangschöner Tiefe und, noch beeindruckender, feinster intensiver Höhe gestaltet er das Leid, die Wut, die Enttäuschung, sämtliche Gefühlslagen des betrogenen Mitridate. Lenneke Ruiten meistert die Koloraturen der Aspasia auf beglückende Art und Weise, Myrto Papatanasiu verleiht dem Mitridate-Sohn Sifare, übrigens wie auch schon bei der Produktion 2007, Charakter und Feingefühl. Das Duett der beiden ist einer der musikalischen und emotionalen Höhepunkte der Oper. Dazu trägt auch das hervorragend disponierte Orchester von La Monnaie unter der Leitung von Christophe Rousset bei. Man hat das Orchester des Brüsseler Opernhauses schon lange nicht mehr auf solch exzellentem Niveau und mit soviel Spielfreude musizieren gehört.
Bis zum 19. Mai steht Mitridate noch auf dem Spielplan. Ein Besuch lohnt sich in jeder Hinsicht. Alle Infos gibt es unter lamonnaie.be.
Hans Reul - Bild: Bernd Uhlig