Es gibt Momente, da möchte man nur ruhig sitzen bleiben, seinen Gedanken nachhängen, das gerade Gesehene und Gehörte weiter wirken lassen. So fühlte ich mich und bestimmt manch anderer auch nach der Premiere dieser Orphée et Eurydice-Produktion. Es ist eine zutiefst berührende und emotional aufwühlende Aufführung, für die alle gängigen Begriffe einer Opernaufführung zu kurz greifen. Ist es überhaupt in erster Linie eine Opernaufführung? Ist es nicht vielmehr ein genreübergreifendes Erlebnis, das an den gängigen Kriterien einer gelungenen oder nicht gelungenen Oper nicht zu messen ist?
Die Handlung von Orpheus und Eurydike dürfte wohl hinlänglich bekannt sein. Christoph Willibald Gluck hat die Sage, wie zahlreiche weitere Komponisten, in betörend schöne Musik gesetzt, die dann später von Hector Berlioz nochmals überarbeitet wurde. In Brüssel ist diese französischsprachige Version des 19. Jahrhunderts zu hören. Aber intensiver als die rein musikalische Umsetzung wird die Inszenierung von Theatermacher Romeo Castellucci. Wobei, Inszenierung ist wohl nicht das passende Wort. Es ist eine bildintensive Reflexion über die Liebe, das Suchen, das sich Verlieren und Wiederfinden.
Als Romeo Castellucci über eine Inszenierung dieser Oper nachdachte, hatte er stets eine Wachkoma -Patientin vor seinem inneren Auge. Dieses Bild verfolgte ihn regelrecht und so war es ein ebenso logischer wie genialer und gewagter Schritt, das Schicksal einer Locked- In-Patientin in die Produktion einzubinden. Das Locked-in-Syndrom ist jenes Krankheitsbild, bei dem ein Patient nur mit den Augenwimpern und der Augenbewegung kommunizieren kann, sonst vollkommen bewegungslos da liegt, aber alles hört, fühlt, sieht und dessen Intelligenz oder emotionales Empfinden nicht angetastet ist.
Castellucci fand in der 28-jährigen Els in der Inkendaal Klinik in Vlezenbeek eine Patientin und ein Umfeld aus Familie und Medizinern, die diese Produktion guthießen und mittragen. Im ersten Akt, bei dem Orpheus, gesungen von Stephanie d'Oustrac, ganz alleine auf der Bühne stehend singt und der Chor nicht sichtbar ist, lesen wir auf einer ansonsten leeren Leinwand die Lebensgeschichte von Els. Sie wurde 1986 geboren, war ein schüchternes Mädchen. Ihre familiäre Situation wird beschrieben ebenso wie sie früh ihren späteren Mann, Daniel, kennen lernt. Sie ziehen zusammen, und Els wird Mutter. Im Januar 2013 bricht sie bewegungslos zusammen. Die Diagnose lautet Locked- In-Syndrom. Heute wird Els in der Klinik in Vlezenbeek betreut. Die Familie, Eltern, Schwestern, ihre beiden Söhne und vor allem Daniel besuchen sie sehr regelmäßig, das sind die stillen glücklichen Momente in ihrem Leben.
Ein Kamerateam macht sich im zweiten Akt auf dem Weg zu Els. In bewusst unscharfen Bildern wird in Echtzeit der Weg zur Klinik projiziert. Die Straßen sind um diese Uhrzeit fast menschenleer, dann geht es in den Park des Klinikgeländes durch einen kleinen Wald, an einem See vorbei und wir betreten die Klinik, erreichen durch die Gänge das Zimmer von Els, die live über Kopfhörer die Musik aus La Monnaie hört. Wir dürfen die Familienbilder und die Zeichnungen ihrer Söhne an den Wänden sehen und dann wendet sich die Kamera und damit unser Blick auf Els. Wir können ahnen, wie sie auf die Musik reagiert. Dies ist unglaublich berührend, und - das ist dem gesamten Produktionsteam zu danken - niemals voyeuristisch, alles ist dezent, fast von einer keuschen Einfachheit.
Jetzt erscheint durch die Leinwand wie ein Lichtblick die Sängerin der Eurydike, Sabine Devieilhe. Im Schlussakt sehen wir in eine Traumwelt, ein antik wirkender Wald, in dem Orpheus und Eurydike letztendlich dank ihrer Liebe wieder vereint werden.
So endet die Oper und jeder im Saal dürfte sehr persönliche Bilder vor Augen haben. Das ist die besondere Stärke dieser Produktion, die gewiss alle Konventionen einer Opernaufführung sprengt, wie ein einmaliger Monolith dasteht.
Ich möchte gar nicht von einer Opernaufführung sprechen, zumal rein musikalisch auch nicht alles perfekt war, nein, hier ist weit mehr passiert, hier hat ein zutiefst menschliches gemeinsames Erleben stattgefunden, das lange nachwirkt. Man kann allen, dem Regisseur und dem Produktionsteam, der feinfühlig agierenden Technik, den Mitwirkenden und vor allem Els nur danken. Bis zum 2. Juli steht Orphée et Eurydice auf dem Programm von La Monnaie.
Bild: You Wei Chen