Wer kennt nicht das Lied des Milchmanns Tevje: "Wenn ich einmal reich wär." Ivan Rebroff tanzte und sang sich mit diesem Gassenhauer durch alle deutschen Fernsehshows. Aber das Musical von Jerry Bock auf diesen Song zu reduzieren, wäre zu kurz gegriffen und würde dem Werk und auch der neuen Produktion im Theater Aachen nicht gerecht. Denn "Fiddler on the Roof" ist mehr als die pittoreske Geschichte von Tevje und dessen Töchtern, die verheiratet werden sollen. Es ist auch die Geschichte des Pogroms und der Vertreibung, eine leider bis heute zeitlos wahre Geschichte. Das große Verdienst der Inszenierung von Ewa Teilmans ist es, dies auf die Bühne zu bringen, ohne die heiteren Seiten des Musicals zu unterschlagen. Kein leichter, aber sehr gelungener Balanceakt.
Dabei hat das Theater auch die größtmöglichen Mittel aufgefahren: Dank des klugen Einsatzes der Drehbühne können die Bilder schnell wechseln, ohne dabei den Gesamteindruck des geschundenen Dorfes Anatevka, in dem ja die Handlung spielt, aus dem Auge zu verlieren. Hier ist die Armut und Zerstörung mit Händen greifbar. Ganz gleich ob in den intimen Soli und Duetten oder in den Massenszenen - selten hat man soviel Volk auf der Aachener Bühne erlebt - die Bilder sind schlüssig. Das gilt auch für die Traumszene, mit der Tevje seiner Ehefrau Golde klar machen muss, dass ihre älteste Tochter Zeitel nicht den reichen Dorfmetzger Lazer Wolf sondern den armen Schneider Mottel heiraten wird. Da spukt es aufs Allerfeinste.
Man spürt die wohl sehr intensive Probezeit und vor allem die Freude am Spiel bei allen Darstellern. Allen voran Bart Driessen, der einen überzeugenden Tevje gibt. Mit seinem sonoren Bass und einem hintersinnig feinem Augenzwinkern ist er ein idealer Tevje. Ihm zur Seite Irina Popova, die die Mutter Golde mit schönem Sopran singt. Die drei Töchter sind absolut typgerecht besetzt: Lisa Katharina Zimmermann als eher ruhige Zeitel, Soetkin Elbers und Michal Bitan als ihre jüngeren und quirligen Schwestern Hodel und Chava. Das gleiche gilt für die jeweiligen Liebhaber und späteren Ehemänner. Köstlich auch Rebecca Or, die sowohl die listige Heiratsvermittlerin Yente als auch in der Traumszene Goldes Großmutter darstellt. Und nicht zu vergessen Benedikt Voellmy, der als Fiddler on the Roof, als Geiger auf dem Dach gleich zum Auftakt, den Ton angibt.
Denn es liegt eine bedrückende Stimmung über dem Dorf. Am Ende werden die Juden vertrieben in eine ungewisse Zukunft. Aber ein Hoffnungsschimmer bleibt, ein Mädchen wie ein Engel hebt die Geige auf und verlässt langsamen Schrittes die Bühne. Regisseurin Ewa Teilmanns gelingt es immer wieder, diese zum Nachdenken anregenden Szenen mit den heiteren Momenten zu kontrastieren. So entstehen Brüche, die ganz natürlich erscheinen. Dazu trägt auch zum einen der typisch jüdische Witz und Humor des Textes und der Musik bei, andererseits das glänzende Tanzensemble, das nur so über die Bühne fegt und sogar die Sänger und Choristen mitzunehmen weiß. Nicht zu vergessen ist die Leistung des Orchesters. Dirigent Justus Thorau und seinen Musikern ist ebenfalls die Spielfreude anzumerken.
Die Standig Ovations des Premierenpublikums waren mehr als gerechtfertigt. Dem Theater Aachen ist wieder eine große Musicalproduktion gelungen, die gewiss ihr Publikum finden wird.
Hans Reul - Bilder: Carl Brunn/Theater Aachen